Fuehrungs-Spiel
mein Ziel. Wie waren die Jungs aufgewachsen, in welchem familiären Umfeld fanden sie zu ihrer Sportart, wie verlief die Ausbildung in der Schule, welche Erfahrungen sammelten sie in Freund- und Partnerschaften, schließlich: Wie kam, meistens ja in der Phase der Pubertät, ihr Entschluss zustande, den entbehrungs- und risikoreichen Weg in den Leistungssport einzuschlagen? Daraus zog ich Rückschlüsse auf die Möglichkeiten meiner Spieler in den wichtigen Bereichen der Teambildung und der Kommunikation, aber auch auf ihr Sozialverhalten in der Gruppe. Doch natürlich ging es in diesem Auswahlverfahren keinesfalls ausschließlich um das psychisch-soziale Profil. Die Unterschiede in den Möglichkeiten und Anlagen betrafen vor allem auch die technischen, taktischen und körperlichen Begabungen und Perspektiven.
Aus der Summe dieser Anlagen zog ich dann meine Schlüsse für die Zusammenstellung des Kaders. Und auch für meine Arbeit, für meinen Umgang mit den Spielern. Bis hierher würde ich mein Verfahren als gut begründbar und schlüssig bezeichnen. Der nächste Schritt jedoch erforderte von meiner Umgebung ein hohes Maß an Verständnis und Toleranz. »In jedem Jahrgang gab es ein oder zwei Spieler, das waren deine Lieblinge, die konnten sich rausnehmen, was sie wollten«, hat mir mein Rekordnationalspieler Philipp Crone gerade vor Kurzem wieder, noch immer kopfschüttelnd, vorgehalten. Irgendwie hatte er recht. Aber natürlich ist die mir damit unterstellte Willkür bei der Auswahl auch eine komplette Fehleinschätzung. Ja, es gab sie, die Spieler, die sich mehr rausnehmen konnten, gerade in Fragen der Disziplin, als andere. Justus Scharowsk y , von dem im Beispiel aus der Praxis die Rede war, gehörte definitiv dazu. Doch diese Individuen leisteten auf andere Weise, durch ihre soziale Kompetenz, durch ihren Humor oder aber durch ihre eigenwillige Ausstrahlung auf dem Platz nach meiner Überzeugung einen so großen Beitrag zum Gelingen des Gesamtprojekts, dass ich ihnen diese Freiheiten lassen konnte. Ja lassen musste, denn – wie im Fall Scharowski – diese Freiheiten bedingten enorme Leistungssteigerungen.
Ein höheres Maß an Freiheiten war jedoch nur eine und gewiss nicht die entscheidende Komponente in meinem Programm der »Differenzierung«. Natürlich ist Höchstleistung auch ein Ergebnis individueller Ansprache und Fürsorge, von Nicht-Gleichbehandlung und Sonderrechten. Vor allem ist Höchstleistung aber ein Ergebnis harter Arbeit auf dem (Trainings-)Platz. Deshalb habe ich die Ansprüche und Anforderungen an die Spieler in diesem entscheidenden Bereich immer individualisiert. Für die Ecken-Spezialisten gab es vor dem eigentlichen Mannschaftstraining ein Ecken-Sondertraining, es gab im Training spezielle Blöcke nur für die Abwehrspieler oder nur für die Stürmer, es gab Phasen, in denen in ganz kleinen Dreiergruppen nur Übungen für eine spezielle Position, beispielsweise des linken Verteidigers, angeboten wurden. Diese Übungen wurden dann nach einer Stärken-Schwächen-Analyse des Spielers auf ebendieser linken Verteidiger-Position entworfen und mit ihm speziell trainiert. Diese Individualisierung auf dem Platz war für mich, neben der Achtung psychischer, zwischenmenschlicher Besonderheiten, das Kernstück meiner Methode des »Differenzierens«.
Ich setzte diese Differenzierung auch in den Zeiten fort, in denen die Spieler wieder in ihren Vereinen trainierten, ich sie also nicht täglich um mich hatte. Gemeinsam mit meinen Spezialtrainern und den Athletiktrainern der Vereine arbeiteten wir für jeden Einzelnen Pläne für zusätzliche Übungen aus, mit denen die individuellen Stärken trainiert oder ihre Defizite behoben werden konnten. So arbeiteten einige Spieler mit den von mir eingesetzten Spezialtrainern auch während der Bundesligasaison frühmorgens vor dem Start ihres Arbeitstages an den beschriebenen, ganz speziellen Übungen für ihre Spielposition in der Nationalmannschaft.
Doch geht es beim Vorgang des Differenzierens nicht vorrangig um die Ausnahmen von der Regel. Es geht zunächst um eine differenzierte Ansprache jedes Einzelnen. Diese Ansprache gehört zu den wichtigsten Führungsaufgaben. Mit einem hochsensiblen, neu zur Mannschaft gestoßenen, vielleicht noch jungen Spieler muss ich anders umgehen als mit einem alten, selbstsicheren Haudegen, der alle Formen meiner verbalen Ausbrüche kennt und erlebt hat. Ein Spieler, der in einer emotionalen Hochphase ist, weil er
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