Fünf alte Damen
Sie mal rumsehen, ja?»
«Sehr gern.»
Wir traten ein. Im Wartezimmer die
Mappe mit den Illustrierten von vor vier Monaten, Preis fünfzig Pfennig pro
Woche. Bequeme Stühle und eine Tafel mit der gereimten Aufforderung, doch bitte
den Krankenschein zu besorgen, als bescheidene Gegenleistung für die ganze
Kunst und viele Mühe des Arztes. Im Labor hatte er neben Flaschen, Reagenzgläsern,
Zentrifuge und Mikroskop einen älteren Kurzwellenapparat mit gewaltigen
Schaltern. Die Toilette ließen wir aus. Im Sprechzimmer herrschte eine milde,
aber noch überschaubare Unordnung. Viel mehr an Literatur stand und lag herum
als bei mir. Sicher der fortwirkende Einfluß des Rektors. Die Finanzlage konnte
ich nach einem Blick auf die Karteikästen abschätzen. Mehr Private, weniger
Kasse. Im Endergebnis ungefähr das gleiche.
«Setzen sich ‘n Moment», sagte Leopold.
«Ich packe nur meinen Kram aus und mache ein paar Eintragungen.»
Ich hockte mich in den Beschwerdestuhl
und dachte nach, während er schrieb. Was sollte ich ihm erzählen? Reiner
Schwindel hatte keinen Wert. Früher oder später würde er den Rektor treffen und
dahinterkommen. Er sah auch nicht so aus, als ob man ihm etwas vorlügen müßte.
Ich beschloß, etwa bei der Mitte zu bleiben.
Er war fertig und sah auf.
«Das wär’s für heute. Feierabend.»
«Viel Besuche?»
«Eigentlich nicht. Aber— muß bei meinen
Leutchen sitzen bleiben und klatschen. Besonders mittwochs. Und Kaffee und
Kuchen und so. Und die Frau Geheimrat im ersten Stock wollte auch noch ein
Rezept. Na, Sie wissen— »
Ich nickte.
«Schlage vor, daß wir uns rübersetzen.
Haben Sie was gegen Cognac?»
«Nicht, wenn der Blutspiegel unter eins
fünf bleibt. Bin hier nicht so bekannt.»
Wir verließen das Sprechzimmer. Hinter
der Privattür ging die Wohnung weiter. Sein Wohnzimmer war voll von elterlichem
Nachlaß mit einer netten Trinkecke. Ein Ding wie ein altes Grammophon entpuppte
sich als getarnter Eisschrank, aber der Napoleon stand, ohne zu frieren,
daneben, wie es sich gehörte. In den Sesseln saß man tief und sicher. Wir
tranken das erste Glas. Ich stellte mir vor, wie der Napoleon sich mit dem
Rotwein des Rektors vermischte.
Beim zweiten wurden die Magenwände
warm. Netter Abschluß des Tages. Ich mußte anfangen, bevor ich vergaß, weswegen
ich hergekommen war.
«Tja, was ich Sie fragen wollte, Herr
Leopold— es kommt Ihnen sicher komisch vor. Ich erkläre Ihnen hinterher, was
los ist. Ich, äh— ich hatte eine Patientin— und— die war mit einer Dame
bekannt, die in Ihrer Behandlung stand.»
Leopold hörte mit höflicher
Aufmerksamkeit zu. Sonderlich interessiert schien er nicht.
«Ihre Patientin war eine Frau
Wiebach-Thomsen, Alma Wiebach-Thomsen. Sie soll vor etwa acht Wochen gestorben
sein.»
Leopold nickte sofort, ohne jede
Überraschung.
«Stimmt, ganz recht.»
«So», sagte ich, «das ist also richtig.
Was ich nun wissen wollte, ist folgendes: Hatten Sie den Eindruck, daß das— daß
das ein ganz natürlicher Exitus war?»
Einen Augenblick saß er völlig still.
Seine Augen blieben unverwandt auf mich gerichtet. Dann öffnete sich der Mund
zwischen den Pausbacken. Der verblüffte Ausdruck wich nicht, als er sprach.
«Na, das ist wirklich komisch,
Kollege!»
«Was?»
«Sie sind der dritte, der mich das
fragt.»
Wir saßen uns gegenüber wie ältere
Denkmäler. Ich bemühte mich, meine Miene beizubehalten, hinter der die gleiche
Verblüffung saß wie auf seiner.
Mit zweien hatte ich gerechnet. Nicht mit
einem dritten. Ich begann zu lächeln und lehnte mich zurück.
«Das ist wirklich komisch. Der dritte?»
«Ja. Der erste war ein Herr namens
Krompeter oder so ähnlich. Anwalt. Wollte dasselbe wissen.
Erbschaftsangelegenheit.»
«Wann kam er?»
«Kurz nach ihrem Tod. Paar Tage.»
«Aha. Und der zweite?»
«Der zweite war ihr Bruder. Alter
Lehrer von mir, lange pensioniert.»
«Sieht aus wie Schopenhauer, was?»
Leopold schlug sich auf die Schenkel.
«Den kennen Sie? Aber Sie waren doch
nicht auf meiner Penne, oder?»
«War ich nicht. Aber ich kenne ihn
trotzdem. Erzähle Ihnen gleich, woher. Sagen Sie mir nur noch— wann kam der
denn?»
Leopold servierte uns den dritten. Als
die Gläser voll waren, ließ er die Hand an der Flasche und faltete seine
Babystirn.
«Das ist noch gar nicht lange her.
Deswegen war ich so erstaunt, daß heute schon wieder einer kommt und fragt. Es
war am Sonnabend.»
«Vergangenen Sonnabend?»
«Ja,
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