Fünf alte Damen
Kurzgeschichte, wie
Millionen andere in allen Zeitungen, jeden Tag.
Aber plötzlich ahnte ich, wie
Mechthilds Tante gestorben war.
Es war Mord.
Es war so gewesen wie in der
Geschichte.
Und vielleicht hatte der Mörder hier
gesessen, in Krompechers Wartezimmer, in meinem Stuhl und mit dieser Zeitung in
der Hand.
Ich blieb bewegungslos sitzen, das
Blatt in der Hand, und fuhr zusammen, als mein Name gerufen wurde. Es war die
Stimme des Mädchens mit den Glutaugen aus dem Vorzimmer. Sie kam aus einem
Lautsprecher über der Tür, wie ein Ruf von einem fernen Ufer.
«Doktor Klein— bitte nach Zimmer eins.
Doktor Klein— Zimmer eins bitte.»
Hastig faltete ich das Provinzblatt zusammen
und verstaute es in meiner Brusttasche. Sicher kam es nicht alle Tage vor, daß
ein Klient im Wartezimmer eines Rechtsanwaltes die Literatur mitgehen ließ. Es
half nichts. Ich mußte eine Ausnahme machen.
Ich verließ den Warteraum durch die
zweite Tür und stand in einem Gang, den gleichmäßiges Neonlicht füllte. Ein
paar Türen gingen ab. Links hinten war die Nummer eins. Ich vergewisserte mich
noch einmal, ob die Zeitung nicht aus meiner Innentasche herausragte. Dann
klopfte ich kurz und trat ein.
Krompechers Brillengläser funkelten mir
entgegen.
Er saß der Tür gegenüber vor einer
gewaltigen Fensterfläche. Sie nahm fast die ganze rückwärtige Wand ein. Drei
Säulen von schweren Vorhängen aus grünem Samt hingen von der Decke herunter.
Krompechers hochlehniger Stuhl war
lederbezogen, und die Platte seines Schreibtisches war es auch. Zwei gleiche
Stühle standen vor dem Schreibtisch. An der rechten Wand erhob sich ein
flacher, hoher Bücherschrank, den ich auf viereinhalbtausend Mark schätzte.
Holzintarsien und Goldleisten. Ich dachte an mein Regal mit dem Totenschädel.
Die gepflegte Hand des Anwaltes winkte
mich heran. Meine Sohlen sanken in einen beachtlichen Teppich.
«Herr Doktor Klein— ich begrüße Sie.
Bitte nehmen Sie Platz.»
Gleich darauf wechselten wir einen
Händedruck über der Lederfläche des Tisches. Das Telefon, das darauf stand,
hatte Knöpfe wie eine Wurlitzer-Orgel. Außerdem war noch ein kleines Mikrofon
da und etliche Druckknöpfe auf einer Elfenbeinleiste. Er verdiente sein Geld
vorwiegend auf elektrischem Wege.
Ich setzte mich. Er wartete. Die Augen
hinter den Gläsern waren genauso weit weg wie damals, als er in meinem Stuhl
gesessen hatte. Das war ein Grund für mich, seine eigenen Worte zu verwenden.
«Ich bedaure, daß ich Sie jetzt noch
störe, Herr Doktor Krompecher», sagte ich. «Ich kann schlecht weg vorher— Sie
wissen, wie das bei uns ist.»
Er gab nicht zu erkennen, ob er es
wußte. Ich dachte an die Zeitung in meiner Tasche und entschloß mich zu einem
frontalen Angriff.
«Sie fragten mich nach der Todesursache
von Frau Jenny Herwig. Am Tag darauf starb die Tante meiner Sprechstundenhilfe.
Frau Bertha von Scherff, Wendelstraße acht. Ich lernte ihren Hausarzt kennen.
Ich erfuhr später von ihm, daß Sie sich auch in diesem Fall erkundigt hätten,
ob eine normale Todesursache vorläge.»
Er schwieg, und ich erwartete auch kein
Wort von ihm.
«Und dann hörte ich von einem Kollegen,
daß Sie auch bei ihm gewesen wären. Wegen einer alten Dame. Frau
Wiebach-Thomsen. Vor acht Wochen.»
Ich fahndete nach einer Spur von
Erstaunen oder Überraschung in seinen Pupillen. Seine dicken Gläser ließen
nichts davon durch.
«Sie werden sich über mein Interesse
wundem», sagte ich. «Ich habe mich auch gewundert. Es kommt kaum vor, daß
Anwälte nach Todesursachen fragen. Das macht die Polizei, oder die
Verwandtschaft, oder das Gesundheitsamt— »
Krompechers Kinn ruckte in die Höhe. Er
sah aus, als hätte er mir nun lange genug zugehört und wäre am Ende seiner
Geduld.
«Ich wundere mich nicht, Herr Doktor
Klein. Neugierde ist eine menschliche Eigenschaft wie andere auch. Die Ihre ist
verständlich. Aber ebenso muß ich Sie um Verständnis bitten, wenn ich Ihnen
mitteile, daß ich über diese Angelegenheit keine Erklärung abgeben kann.»
Er stand nicht auf und drückte auch auf
keinen der Knöpfe.
Viel Zeit blieb mir trotzdem nicht
mehr.
Ich legte die Hände flach auf das kühle
Leder meiner Stuhllehnen.
«Die Frage ist», antwortete ich, «ob
Sie in meinem Fall eine Ausnahme machen können.»
«Warum sollte ich das?»
Sehr richtig, dachte ich. Warum solltest
du das?
«Ich weiß, daß diese alten Damen sich
aus ihrer Schulzeit kennen», sagte ich. «Ich
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