Fünf Brüder wie wir
Dörfchen Cenis mit seinen malerischen Häusern hinab, das …“
„Super“, sagte Jean Eins mit klappernden Zähnen. „Und jetzt alle ab an einen windgeschützten Ort!“
Papa wollte trotzdem unbedingt noch ein Foto machen. Man kann darauf in Nahaufnahme seine Hand erkennen, mit der er das Objektiv vor den Windstößen zu schützen versucht, und dahinter verschwommen uns fünf und Mama, dicht aneinandergedrängt wie Überlebende eines Seilbahnunglücks.
Das ist alles, was von unserem Besuch auf der Grande Aiguille geblieben ist. Dieses Foto und der kleine Bleistiftspitzerpickel, den Jean Eins in dem Souvenirladen geklaut hat, als wir auf die Kabine für die Talfahrt warteten.
„Wenigstens haben wir die Fahrt dann nicht ganz umsonst gemacht“, meinte Jean Eins.
Am nächsten Tag hatten wir alle 39 Grad Fieber, bis auf Papa und Mama, die zwischen den Zimmern hin und her gingen und Löffel mit Arznei verteilten.
Ich fühlte mich, als hätte ich Watte in den Ohren. Die Zeilen der Fünf Freunde tanzten mir vor den Augen und den größten Teil des Tages muss ich einfach verschlafen haben.
Ich wachte davon auf, dass Jean Eins auf meinem Bett herumhopste und grässliche Schreie ausstieß.
„Schau!“, sagte er und hielt mir den leeren rechten Ärmel seiner Schlafanzugjacke unter die Nase. „Meine Hand! Erfrierung achten Grades! Papa musste sie mir mit der Nagelschere amputieren.“
„Umso besser“, sagte ich. „Dann kannst du wenigstens nicht mehr in der Nase bohren.“
Er wälzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf meinem Bett. „Einarmig! Ich bin einarmig! Man wird mir eine Greifzange auf den blutenden Armstumpf aufpflanzen müssen …“
„Na, es scheint euch ja schon besser zu gehen“, meinte Papa, als er ins Zimmer kam. „Operation ‚Von der Erde zum Mond‘ – alles startklar!“
Er reichte jedem von uns ein Thermometer und wir verkrochen uns unter die Bettdecken, um die Temperatur zu messen.
„Ein Durchschnitt von 38,2“, sagte Papa. „Die Temperatur sinkt. Ich hab euch doch gesagt, dass nichts über Höhenluft und die trockene Kälte der Gipfel geht! Ihr seid morgen zu Heiligabend wieder auf dem Damm.“
Papa ist nämlich ein sehr guter Arzt.
An Heiligabend hatten wir alle 40 Grad Fieber. Weil Jean Eins und ich die beiden Ältesten sind, durften wir zum Abendessen kurz aufstehen und ins Restaurant des Hotels mitkommen. Es gab mit Maronen gefüllten Truthahn und eine Eisbombe, aber wir haben beide nichts runtergebracht. Jean Eins war puterrot und mir drehte sich alles, sodass der geschmückte Tannenbaum im Speisesaal jeden Augenblick in die Teller der Gäste zu stürzen schien.
Danach sind wir wieder hoch ins Bett. Es war ein komischer Heiligabend, aber Papa und Mama hat es trotzdem gefallen. Sie haben dort nämlich neue Freunde gefunden: Herrn und Frau Vuillermoz.
Herr und Frau Vuillermoz kommen seit vierzig Jahren in das Hotel du Mont d’Or. Vielleicht stand Herr Vuillermoz deshalb jeden Tag in Pantoffeln in der Eingangshalle herum und erzählte den Skifahrern, wie das Wetter werden würde. Frau Vuillermoz saß im Salon des Hotels immer im selben Sessel, nah am Fenster. Sie strickte immer aus Wollresten Socken und warme Unterhosen, die sie dann in Päckchen steckte und den armen Kindern in Togo schickte.
Frau Vuillermoz hat ein gutes Herz. Jedes Mal wenn Mama ihr über den Weg lief, sagte sie: „Eine reizende kleine Familie, die Sie da haben. Was das für Arbeit machen muss!“
„Ach, wissen Sie“, antwortete Mama bescheiden, „man braucht nur auf Ordnung zu halten, das ist alles.“
Papa verbrachte die Nachmittage mit Herrn Vuillermoz, der ihm von seiner Fossiliensammlung erzählte. Herr Vuillermoz besitzt zweihundertdreiundfünfzig Fossilien, alle ganz alt, die er in seinem Haus in Paris fein säuberlich geordnet in kleinen Vitrinen aufbewahrt. Herr Vuillermoz hat auch ein gutes Herz: Als Papa einmal eingeschlafen ist, hat er einfach weitergeredet, als wäre nichts passiert.
Man konnte aber auch nichts anderes machen, weil es nämlich überhaupt nicht aufhörte zu schneien.
„Das hellt sich bald auf“, verkündete Herr Vuillermoz jeden Morgen, nachdem er sorgfältig den grauen Himmel mit den herabrieselnden Schneeflocken untersucht hatte. „Ich versichere Ihnen, das hellt sich bald auf.“
Was für ein Glück, dass Papa und Mama gleich neue Freunde gefunden haben. An Heiligabend müssen sie an ihnen besonders viel Freude gehabt haben, denn als sie die
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