Fünf: Schwarzwald Thriller 1
gehen. Um drei Uhr in der Nacht.
Auch, als er in die Schule kam, änderte sich nichts an den nächtlichen Geschehnissen in seinem Zimmer.
Und seine Klassenkameraden, die im Sommer so schön Fußball gespielt hatten und die er so inbrünstig beneidet hatte, hasste er jetzt sogar noch mehr, denn sie wollten mit dem Jungen vom Rainert-Hof nichts am Hut haben. Nur sein Lehrer erkundigte sich manchmal nach seinem Wohlergehen, wenn er wieder einmal übersät mit blauen Flecken in der Schule erschien.
»Ich bin eben ziemlich ungeschickt«, hatte er seinem Lehrer dann das eine Mal erklärt. »Das ist beim Fußball passiert«, sagte er ein anderes Mal. Aber wenn sein Lehrer sich damals wirklich für ihn interessiert hätte, dann hätte er gewusst, dass Onkel Klaus ein hoffnungsloser Trinker und Schläger war.
So war ein Jahr nach dem anderen vergangen.
Er war ein zarter Junge gewesen. Einer, der von den anderen Kindern beim Fangenspielen immer gleich gefangen wurde, weil er langsamer und vorsichtiger war als alle anderen. Einer, der auch im Sommer immer ein bisschen blasser war als die anderen Kinder. Einer, der immer ein bisschen öfter krank und ein bisschen weniger stark als die anderen war. Einer, den man nie ernst genommen hatte. So war das seine ganze Kindheit über.
Und immer hatte Onkel Klaus ihm erklärt, dass er, weil er so schwach und so weich und so verletzlich war, nichts verloren hätte in dieser Welt und dass es nun mal seine gottgegebene Pflicht wäre, ihn auf das Leben, das harte, ungerechte Leben vorzubereiten. Dann hatte er ihn wieder geschlagen. Onkel Klaus hatte so lange auf ihn eingeschlagen, bis Ralf keine Tränen mehr hatte.
»So will ich dich sehen«, hatte Onkel Klaus gesagt und sich nach der körperlichen Anstrengung den Schweiß aus dem Gesicht gewischt. »Stark und ohne Tränen, nur so kann man in dieser Welt bestehen.«
Er hatte sich eingeredet, dass seine Mutter an diesem einundzwanzigsten Mai bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Sie hätte ihn sonst nie und nimmer dieser Hölle ausgesetzt. Und abends hatte er sich in den Schlaf geweint, hatte Gott um Hilfe angefleht, hatte ihn angebettelt, ein Wunder geschehen zu lassen und seine Mutter zu ihm zurück auf die Erde zu schicken oder ihn jetzt gleich sterben zu lassen, damit er zu seiner Mutter in den Himmel gehen könnte. Aber der liebe Gott hatte ihm nicht zugehört. Und er hatte auch nicht hingeschaut, als Onkel Klaus ihn jeden einzelnen Tag seines Lebens weiter und weiter prügelte, bis er nicht mehr wusste, was Schmerzen waren. Irgendwann hatte er für immer aufgehört zu weinen.
Und dann war etwas Komisches passiert.
Mit den Tränen schienen auch die Schmerzen verschwunden zu sein.
Als er aufgehört hatte zu weinen, hatten die Schläge des Onkels aufgehört, wehzutun.
Etwas in ihm war fort, und er spürte, wie stattdessen etwas anderes in ihm zu wachsen begann.
Etwas Heißes, Ursprüngliches, etwas, vor dem er sich beinahe noch mehr fürchtete als vor Onkel Klaus. Aber auch etwas, von dem er wusste, dass es ihn befreien würde, wenn er es endlich befreite.
Und dann, mit zehn Jahren, nach fünf Jahren unendlichen Leides, hatte er es getan. Er ließ es frei.
Das rot glühende Monster seiner Wut und seines Hasses brach sich mitten in einer der grausamen Lektionen seines Onkels Bahn, als er ihm wieder einmal neue Kraft für das wirkliche Leben einprügelte.
Er wusste nicht, wie es passiert war, was das Monster genau mit Onkel Klaus gemacht hatte, der irgendwann tot am Ende der Treppe gelegen hatte, aber er hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben frei gefühlt.
Die Polizei hatte schließlich einen verstörten zehnjährigen Jungen schlafend neben seinem toten Onkel gefunden.
»Der arme Bub« und »Was für eine Tragödie« hatten die netten Polizisten gesagt, als sie im benachbarten Zimmer über ihn, den bemitleidenswerten kleinen Waisenjungen, redeten. Keiner war auf die naheliegende Idee gekommen, ihn nach Onkel Klaus’ Tod zu befragen.
Als stadtbekannter Säufer schien festzustehen, dass er im Vollrausch die Treppe hinuntergefallen sein musste. Hätten sie ihn damals gefragt, hätte er ihnen vielleicht noch von der wütenden, fauchenden, schreienden Wut erzählt, die tief aus seinem Inneren gekommen war und den Onkel für immer zum Schweigen gebracht hatte.
Ralf stand langsam von seiner Pritsche auf und dehnte sich ausgiebig, ehe er sich an den Schreibtisch setzte. Er zog einen Stift hervor und schrieb fünf
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