Für ein Lied und hundert Lieder
sämtliche Felldiebe als Chor mobilisiert; aber vor der Bühne schlenderte der Chef des Ganzen mit dem Taktstock in der Hand auf und ab; seine Hüfte war krumm wie bei einer Garnele, mit den Füßen gab er vorsichtig den Takt. Sein Taktstock ging ein wenig nach unten, und schon richteten sich die in der ersten Reihe mit untergeschlagenen Beinen sitzenden Mönche auf, reckten mit ausgestrecktem Zeigefinger die Arme nach oben und imitierten den Hauptdarsteller aus dem japanischen Zeichentrickfilm »Ikkyu« [33] , zeichneten sich einen Kreis auf den Kopf und machten mit den Zungenspitzen Mönchsklappern nach: »Luoluoluo …«
»Auftakt!«, ordnete der Klare an und legte jäh und voller Stolz den Kopf in den Nacken, dann hob er den Taktstock. Sofort falteten die in der hinteren Reihe hockenden Mönche die Hände und brüllten das Finale hinaus: »Ach, kleiner Mönch vom Kiefernberg –!«
»Stopp, stopp«, der Klare war wütend, »ihr könnt nur brüllen! Ihr habt wohl Blähungen, was?! Verdammte Scheiße, ihr habt keinen Sinn für Schönheit!«
»Klingt ungefähr wie ein Kasernenchor«, fügte Er Li hinzu.
»Wir teilen sie, jede Gruppe singt eine Strophe, dann gibt es einen Wechselgesang. Die Grenze ist bei dem Heißwasser-Dieb, die sollen von beiden Seiten in die Mitte schauen, wenn sie den Kopf senken, verlieren sie den koketten Ausdruck, wie ein Mädchen vom Dorf, das zum ersten Mal auf der Bühne steht. Erst am Ende singen dann alle zusammen – aber nicht wieder so ein Gebrüll, als hätten sie Schießpulver gefressen, sondern leise, sanfter, das heißt, das heißt …«
»Gemischter Chor«, ergänzte ich nebenher.
»Richtig, gemischter Chor!« Der Klare nickte und murmelte: »Aus einem Gemischtwarenladen wird natürlich ein gemischter Chor.«
Ach, kleiner Mönch vom Kiefernberg,
zum Tempel kamst mit so viel Tränen.
Da oben die, die Buddha sind,
zünden gleich ein Stäbchen an.
Die Regierung schenkt dir alten Reis,
und ’was Gemüsesuppe.
Einhundertacht Gerichte,
die machen dich ganz kirr,
du lebst, doch abgezogen,
ach, kleiner Mönch vom Kiefernberg,
wann kehrst heim zu Vater, Mutter du?
Das ist jetzt alles so viele Jahre her, aber ich sehe die Szene vor mir, ich empfinde das alles so intensiv, als sei es gestern gewesen – wobei ich nicht weiß, wohin es den Klaren verschlagen hat. Wir waren uns von der Art her so ähnlich, das ging ganz tief, ich habe ihn als Dichterkollegen behandelt, schade, dass uns das Schicksal nur für so eine kurze Zeit zusammengeführt hat.
Einer meiner Mitangeklagten hurte und soff, als habe er den Verstand verloren.
»Mein Mund und mein Schwanz haben jeden Geschmack verloren«, sagte er. »Der Unterschied zwischen den achtziger und den neunziger Jahren liegt in den Fertiggerichten, damals ging man, um einen Schnaps zu trinken, in irgendein vergammeltes Restaurant, heute geht man in einen feinen Laden; damals hat man sich bei den Frauen den Mund fusselig geredet mit irgendwelchem romantischem Zeug, heute steigt man nach dem Ritt einfach runter.«
Selbsterniedrigung war vielleicht der Weg eines Künstlers, gegen die Welt Widerstand zu leisten – wie bei dem jaulenden Alan Ginsberg, blieb in der Zeit, in der ich verkam, in mir drin doch ein Gebet nach dem reinen Land lebendig. Li Yawei und Ma Song hatten bei Tisch einmal den dringenden Wunsch kundgetan, Gedichte zu schreiben, aber nach diesem Outing nahmen sie doch wieder ihre Handys zur Hand und kehrten entschlossen zu ihren Geschäften zurück.
Schreiben kann einem Menschen Würde verleihen, Menschen, die Würde haben, haben alle den brennenden Wunsch, ein historisches Leben zu führen (oder wie Václav Havel betonte, auf individuelle Art in die Geschichte einzugehen). Li Yawei hatte mich coram publico verspottet: »Liao Yiwu ist der Auffassung, er hat das Zeug, Geschichte zu schreiben.«
Dieser Satz hat mich wachgerüttelt: Aus der Sicht des historischen Widerstandes (oder sagen wir des Widerstandes aus dem Gedächtnis heraus) musste ich eigentlich zugeben, dass ich eine abweichende politische Meinung hatte – Entsetzen und Verzweiflung sind etwas vollkommen Unreflektiertes. Das kommt noch aus dem Mutterleib.
Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich für mein Teil alles bis zum Gehtnichtmehr ausgekostet, von Minderwertigkeitsgefühlen über das reine Sichgehenlassen bis zur Selbstzerstörung, das war schrecklicher und furchtbarer als alles, was von der Außenwelt kommen konnte. Ich war mein
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