Fuer Elise
Cassy sie aus dem Grübeln.
Da war sie wieder. Die ganz normale Frage.
Elise unterdrückte ein innerliches Zittern. Ihre Gehirnwindungen verknoteten sich.
Wie oft hatte sie diese und ähnliche Fragen in der Vergangenheit gehört und daraufhin gelogen oder geschwiegen.
Sie bereute hergekommen zu sein. Aber gleichzeitig kehrte die Wut zurück, die sie zum ersten Mal nach Michas Verschwinden erfasst hatte und sie sagte es - einfach so:
"Seit ich nicht mehr studiere, lebe ich auf Choisric Castle, dem Wohnsitz meiner Familie. Das Schloss steht mitten in Connemara und ich lebe dort völlig allein."
Mit zitternder Hand nahm sie ihren Kaffeebecher und kippte einen Schluck in sich hinein, als wäre es Wodka, der die Wahrheit erträglicher machen würde. Dann fing sie Cassys ungerührten Blick auf, die mit den Achseln zuckte.
"Und was ist mit der anderen Hälfte der irischen Bevölkerung? Der mit den vielen Haaren auf der Brust und dem Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum?"
Hatte sie den nicht gehört, was sie eben gesagt hatte? Elise drehte den Becher vor sich und wusste nicht, warum sie weitersprach.
"Es gibt einen." sagte sie und verspürte den Drang zu lächeln. Das Zittern ließ nach. Cassy schlug sich mit der Hand aufs Dekolleté.
"War mir klar! Eine Zuckerschnecke wie du. Und? Wie sieht er aus? Du stehst sicher auf den Gentleman?" Sie schaukelte mit den Schultern wie Marylin Monroe.
Elises Miene fiel in sich zusammen.
"Er ist ein Idiot." sagte sie und überlegte, ob das ihr erstes Frauengespräch war. Jedenfalls fühlte es sich so an. Es fühlte sich … gut an.
Cassys Miene verdunkelte sich, als sie sich mit den Ellbogen auf den Stehtisch vorlehnte.
"Dann kenn ich ihn sicher." sagte sie enttäuscht.
"Glaub ich nicht, Micha lebt in Dublin."
sagte Elise und ihr wurde erst bewusst, dass sie seinen Namen ausgesprochen hatte, als Cassy ihr die Schulter tätschelte und die Augen in einem Hundeblick zusammenzog.
"Bei dem Namen muss ich an meinen ersten Kuss denken." erklärte Cassy versonnen.
"Ein Micha?" fragte Elise.
"Ein John. Aber meinen ersten Kuss bekam ich auf 'Skellig Michael'. Du weißt schon, der größeren der beiden Skellig Inseln vor der Küste - die mit den Bienenkorbhütten und den ganzen unheimlichen Steinkreuzen."
Elise nickte. Sie war als Kind mit ihrem Vater dort gewesen, aber sie fand nichts Besonderes an der Insel, vermutlich weil es ein Ort war ohne Leben, genau wie Choisric.
"Ist schon ok, Mäuschen." hörte sie Cassy sagen, "Ich bin auch allein. Ich hab zwar kein Schloss, aber ich frag mich, wo da der Unterschied liegt. Einsam sind wir hier und dort."
Dann griff sie nach einem Brötchen und erstach es mit dem Messer.
Elise betrachtete ihr Profil. Cassy wirkte ungewohnt vertraut auf sie.
"Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben." hörte sie sich sagen und schob den Pappbecher von sich. "Er war Forscher. Er versuchte Vampire aufzutreiben und ein Heilmittel gegen ihren krankhaften Zustand zu finden."
Einen Moment verharrte sie regungslos auf dem Stuhl, nachdem ihre Stimme verklungen war. Nur drei Geräusche waren zu hören: Cassys Kauen, das Brummen eines Kühlautomaten und ihr rotierender Pappbecher.
"Weiter?" unterbrach Cassy die Stille. Sie schob sich mit dem Zeigefinger einen Brötchenkrümel über die Lippen in den Mund.
"Vampire." stellte Elise nochmals fest und sah Cassy fragend an. Die schluckte energisch den Bissen hinunter, um zu antworten.
"Entschuldige, dass ich nicht umkippe vor Entsetzen. Im Fernsehen gibt es Wahrsager, Hellseher und all diese Menschen, die Löffel verbiegen und so n' Zeug. Vermutlich haben die auch Familien. Mäuschen, sei froh, dass du wenigstens weißt, von wem du abstammst. Verrückt sind wir am Ende alle."
Elise konnte nicht glauben, was sie da hörte.
"Hey." Cassy tippte Elise auf die Schulter, stemmte einen Arm in die Hüfte und drehte sich ihr frontal zu.
"Ich weiß wie man sich fühlt, wenn man nicht dazugehört . Mir ist Banane, welche Leichen deine Familie im Keller hat. Ich suche eine Freundin. Aber ich habe den Eindruck, du gehst mir aus dem Weg, meine Liebe."
Elise versenkte ihren Blick im Kaffee.
"Mein Problem ist, dass ich nicht weiß, wie lange ich noch zu Verfügung stehe - als Gesellschaft." sagte sie.
Cassy zog die Brauen zusammen.
"Soll heißen?"
Wie sollte sie es bloß formulieren?
"Sagen wir, ich hätte es mit einer mächtigen Krankheit zu tun. Aber ich bin nicht selbst krank. Es gibt ein Medikament, aber es ist
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