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Fuer Elise

Fuer Elise

Titel: Fuer Elise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Melchior
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sterben.

Verirrung
     
    Gabriel wischte über das Mahagoni seiner Bar. Er hasste das. Nicht das Wischen an sich. Es war die Vorbereitung auf eine Existenz unter Menschen und all die absonderlichen Aufgaben, die damit einhergingen - wozu diesmal das Instandsetzen einer heruntergekommenen Lokalität gehörte. Die Zeitspanne im Untergrund war die Angenehmste. Doch die war ab heute unwiederbringlich vorbei. Beinah hasste er Michael dafür. Er stand wahrlich nicht über ihm. Aber es gab keine Gnade für Verfehlungen. Das musste ihm klar sein. Sie würden sich gegenseitig richten. Damals wie heute.
    Sein Blick streifte durchs Lokal und blieb an den verstaubten Flaschen hängen, die vor einer blind gewordenen Spiegelrückwand am Tresen standen. Er musste sie alle einzeln abstauben und die Klebeschicht der Glasregale entfernen, bevor er den Pub eröffnen konnte. Das oberste Gebot blieb, zügig mit der Masse zu verschmelzen. Nur so ließ sich eine perfekte Alibiexistenz schaffen. Er musste sich sputen, so sehr ihn das Theater anwiderte.
    Energisch rubbelte er über einen Hügel Kaugummi auf der Tischplatte, als etwas vor der in Holz gefassten Glastür auf den Gehsteig fiel. Gabriel sah nur kurz auf und wieder zurück auf den Lappen, in dem jetzt ein beachtlicher Teil der Gummimasse haftete. Er trat ans Spülbecken, um den weißlichen Belag zu entfernen, als eine Stimme schrill und unverständlich vor der Tür zu zetern begann und sich wild gestikulierend als roter Fleck im Milchglas abzeichnete.
    "Unmöglicher Flegel! Können Sie nicht aufpassen? So eine Unverschämtheit!" Die Stimme verwandelte sich in halbherziges Heulen, "All die guten Sachen! Nun muss ein Kind hungern, weil Sie so ein jämmerlicher Idiot sind. Ja ja, laufen Sie nur weg, das tut ihr ja alle. Bärtige Hirnochsen…!"
    Gabriel stemmte die Ellbogen auf die Theke und schüttelte den Kopf. Dann griff er in den Lappen, um sich weiter seiner weltrettenden Putztätigkeit zu widmen, als die Tür aufschwang.
    "Entschuldigen S ie!" rief die junge Frau, die sich aus dem roten Fleck manifestierte, "Können Sie mir einen Wischmopp und eine Mülltüte leihen? Ich habe den ganzen Gehweg mit Babypuder und Milchpulver bekleckert. Der nächste, der darauf ausrutscht, verklagt sie womöglich wegen Nichtbeseitigung von Babypuderglätte auf dem Gehsteig. Und dann entlassen Sie mich womöglich noch vor meinem ersten Arbeitstag."
    Gabriel stockte, rang sich sein einstudiertes Gutmenschenlächeln ab und taxierte die Störerin.
    Der Groschen fiel, änderte jedoch nichts. Sie war eine der Angestellten, die er gegen die Sünderinnen des Vorbesitzers eingetauscht hatte. Er hatte ihren Namen vergessen, aber das war auch egal. Sie besaß die Größe einer Asiatin und aus westlich-weltlicher Sicht eine 'gute Figur' - also ein Besenstiel mit Brüsten. Der rote Fleck im Milchglas war ein Kleid, welches von einem Lackmantel in einem noch grelleren Rot überdeckt wurde. Das Ganze harmonierte nicht mit ihrem Lippenstift und schon gar nicht mit ihren hellen Augen, die beinah hübsch hätten aussehen können.
    Er trat um die Theke, griff nach dem Wischer und hielt ihn ihr am ausgestreckten Arm hin.
    "Soll ich Ihnen vielleicht noch helfen?" fragte er, ohne sich darum zu kümmern, ob sie bemerkte, wie zuwider ihm das Angebot war.
    Die junge Frau klatschte in die Hände. Ihr herzliches Lachen erweichte ihn einen Moment und er wich zurück.
    "Sie sind in jeder Hinsicht der Engel, den ich gerufen habe!" rief sie. Gabriel gab sich geschlagen und ging kommentarlos an ihr vorbei auf die Straße.
    Ihre Freude war jedenfalls echt. Erleichterung hätte er ja durchaus verstanden, aber Freude? Die Menschen waren kaum noch fähig, Freude zu empfinden. In der Regel passierte das nur, wenn ihnen unverhoffter Wohlstand zu Teil wurde oder sie ihr Erstgeborenes im Arm hielten. Aber selbst dieser Zustand hielt nur an, bis das Kind die erste Stunde durchschrie.
    Der Asphalt vor der Gaststätte sah aus, als habe ihn jemand mit gelblichem Mehl bestäubt. Dazwischen klebten Glasscherben in Babybrei, was sich nur bezüglich des Geruchs von Erbrochenem unterschied.
    "Heilige Sauerei!" entfuhr es Gabriel. Er bückte sich, um die Scherben von der Masse zu trennen, als sich ihm eine zierliche Hand mit leuchtenden Fingernägeln vor die Nase streckte. Er blickte auf, direkt in blaue Augen, umsäumt von blonden Wimpern und ihm war, als treffe ihn ein Football mitten ins Gesicht. Etwas riss ihn aus seiner Abwehrhaltung, die

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