Für hier oder zum Mitnehmen?
ohne uns anzusehen.
Die kleine alte Dame hat etwas Maushaftes. Ihr braun-beiges, kurzes Haar ist gelichtet, vor allem am Hinterkopf, aber akkurat frisiert in leichten, natürlichen Wellen. Sie trägt einen hellgrünen Blazer und einen langen beigen Faltenrock. Sie stellt sich mir als Frau Melanowski vor.
»Mein Junge, das ist dir doch bestimmt auch schon mal untergekommen, dass du von zu Hause losgegangen bist und dann bemerkst, dass du dein Portemonnaie vergessen hast, nicht?«
Sie spitzt beständig ihren Mund, ihre Hände legt sie mit den Handoberflächen nach oben in den Schoß, ab und an fasst sie mich am Arm, um sicherzugehen, dass ich sie verstehe. Der Inhalt der beiden Tüten reicht mindestens, um den Hunger von sechs Personen zu stillen, Frau Melanowski nicht eingerechnet. Milena hat alles gut und sauber verpackt und gestapelt. Irgendwie ist die Dame auf den Barhocker am großen Tisch geklettert, ihre Beine baumeln frei in der Luft.
»Natürlich, das kann schon mal vorkommen, aber wie wollen wir denn das Problem nun lösen?«
»Wo sind wir hier, in welchem Stadtteil?«
Ihr Blick ist gebrochen, sie ist unruhig geworden.
»In Mitte, am Rosenthaler Platz.«
»Ich habe früher hier gelebt, mein Junge, ich kenne mich hier bestens aus. Ich habe nur den falschen Ausgang unten im U-Bahnhof erwischt. Deshalb wusste ich einen Moment lang nicht, wo ich bin.«
Der U-Bahnhof Rosenthaler Platz besitzt vier Ausgänge direkt an der großen Kreuzung, die alle über verschiedene Gänge und Abzweigungen zu erreichen sind. Die Orientierung ist nicht einfach, die Beschilderung uneindeutig.
»Der Ausgang gegenüber ist gerade gesperrt, da wird gebaut.«
»Siehst du, mein Junge, da haben wir es doch. Wie soll eine alte Frau sich da noch zurechtfinden?«
Für kurze Zeit erleichtert sie meine Information, dann wird sie wieder unruhig und schaut sich um, während sie sich an meinem Arm festhält.
»Wir können das alles aufschreiben, und Sie begleichen es dann später«, beruhige ich sie. »Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«
»Das sieht ja alles so lecker aus, guck mal.« Sie beginnt, den Inhalt der Tüten auszupacken, um ihn mir zu präsentieren. Ich halte behutsam ihre kleine, alte, kalte Hand fest, die Haut ist dünn und transparent. Sie ist vielleicht Gast im alten Aschinger gewesen, eine Augenzeugin. Sie schaut mich traurig an.
»Das Essen im Heim ist nicht gut.« Sie macht eine abfällige Handbewegung. »Ich dachte, ich besorge uns was richtig Leckeres.« Triumphierend lächelt sie mich an. »In welchem Stadtteil sind wir hier?«
»Frau Melanowski, wo genau ist denn Ihr Heim?«
Diese Frage bringt sie in Bedrängnis, sie ist nun gänzlich nervös, blickt sich um und fasst sich mit einer Hand an den Mund. Sie knöpft den obersten Knopf ihrer Bluse auf und zieht ein blaues Schlüsselband mit einem Amulett hervor.
»Hier, junger Mann, hier steht doch alles drauf«, sagt sie, als müsste ich wissen, dass bei alten, verwirrten Menschen irgendwo eine Art Hundemarke verborgen ist. Sie freut sich, eine Lösung gefunden zu haben, und übergibt mir das Amulett. Es ähnelt einem Hotelschlüsselanhänger. Dort, wo sich sonst die Zimmernummer befindet, steht »Seniorenstift St. Antonius« und eine Berliner Telefonnummer.
In der Hoffnung, dass Frau Melanowski nach Hause und ich an mein Geld komme, versichere ich ihr, dass alles kein Problem sei und rufe mit meinem Mobiltelefon dort an. Im St. Antonius weiß man gleich, wen ich meine, es kommt öfter vor, dass Frau Melanowski verbotenerweise das Stift verlässt. Sie verständigen die Polizei, die wird die Ausreißerin wieder heimbringen.
»Alles geklärt, Frau Melanowski, Sie werden gleich abgeholt.« Von der Polizei will ich nicht sprechen, das könnte sie unnötig beunruhigen, ihre Hand umklammert fest die meine. Die Situation ist unter Kontrolle.
Milena galoppiert die große Holztreppe herunter, mit einem leeren Tablett in der Hand und einem roten Kopf zwischen den Schultern. Die Hand der alten Dame greift noch fester zu. Obwohl Milena aufgeregt ist und sich eher sportlich als grazil bewegt, strahlt sie etwas Anziehendes aus – aber auch etwas Mitleiderregendes. Als sie vor uns steht, sammelt sich Milena kurz, zupft ihr enganliegendes T-Shirt zurecht.
»Der Amerikaner schaut sich Pornos an. Por-no-grafie! Auf seinem Laptop. Ich habe doch die ganze Zeit gesagt, dass mit dem etwas nicht in Ordnung ist.«
Milena ist merklich in Rage. Frau Melanowskis Griff wird schmerzhaft
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