Für hier oder zum Mitnehmen?
bekannter Apotheker der kleinstädtischen Senke war verstorben. Alles, was Rang und Namen hatte, verabschiedete das ehrwürdige Mitglied aus den Kreisen des Bürgertums. Es wurde viel und heftig geweint. Nach der Andacht in der Kapelle zog der Tross zum Grab. Mein Job war es, das Kreuz zu tragen. Das Kreuz mit Jesus war aus Blech, an einem langen Holzstab befestigt, gut und gerne zwei Meter fünfzig hoch. Der Kreuzträger ging an der Spitze, direkt gefolgt vom Sarg. Der lag auf einem Wägelchen, dessen Gestell und quietschende Räder von schwarzem Stoff verdeckt waren und der von zwei Totengräbern geschoben wurde. Dahinter kamen der Priester und die anderen Messdiener, dann die Trauernden.
Ich wollte, dem feierlichen Anlass geschuldet, das Kreuz besonders hoch halten. Dabei verfing es sich in einem Baum. Ich musste stehen bleiben, um Jesus zu befreien, die gesamte Trauergesellschaft musste stehen bleiben. Jesus war wie verknotet in den biegsamen jungen Zweigen. Einer der Totengräber kam mir zu Hilfe, ein kräftiger Ruck befreite Jesus und löste leider auch einen mittelgroßen Ast, dem der Totengräber und ich gerade noch ausweichen konnten, der dann aber krachend auf dem Sarg des Apothekers landete, der nicht mehr ausweichen konnte. Der andere Totengräber entfernte den Ast dezent, als wäre nichts geschehen. Die Trauergesellschaft konnte ihren Weg fortsetzen.
Auf Beerdigungen neigte ich schon immer zum Lachen. Wahrscheinlich eine Art paradoxe Schutzreaktion, um die Betroffenheit der anderen nicht an mich heranzulassen. Als ich nun die Beerdigung mit tiefergelegtem Jesus wieder anführte, half selbst heftigstes Lippengebeiße kaum noch, um mein Lachen zu unterdrücken. Am Grab musste ich mich zu allem Überfluss hinter den Schacht stellen und das Kreuz während der Zeremonie leicht gesenkt über dem Sarg schweben lassen. So war ich der Einzige, der alle anderen anschaute. Jesus und mich schüttelten Lachkrämpfe durch. Ich versuchte sie zu unterdrücken, so dass dieser Kampf glücklicherweise wie Verzweiflung und Trauer wirkte und niemand Verdacht schöpfte.
Wie konnte Gott mich einer derartigen Prüfung unterziehen? Abrahams Probe war ein Kindergeburtstag gegen das, was ich erleben musste. Es war ein Albtraum. Unter Schock zog ich anschließend mein wallendes rot-weißes Gewand aus und hängte den Messdienerdienst an den Nagel. Mein Glaube begann zu bröckeln, bis er kurze Zeit später ganz verschwand.
Florian hat recht. Es zieht mich seitdem immer wieder auf Friedhöfe. Am Kriegerdenkmal des Friedhofs der Kleinstadtsenke bekam ich meinen ersten richtigen Kuss. Wenn ich einen Friedhof sehe, muss ich ihn mir ansehen.
»Du hast recht. Ich mag Friedhöfe. Das muss an meinem unverarbeiteten Beerdigungstrauma liegen. Habe ich noch nie drüber nachgedacht.«
»Wie meine Frau, die muss immer in Kirchen gehen. Meine Exfrau, muss ich wohl eher sagen. Die hat da bestimmt auch irgendein Trauma. Na ja, mit den Kirchen kann sich ja jetzt der Neue rumschlagen. Ich hasse Kirchen.«
Florian hat das Thema erstaunlich lange ausgespart. Nun aber springt die Nadel in die Rille, und der wohlbekannte Song wird abgespielt: Wenn sie es ihm früher gesagt hätte, hätten sie noch eine Chance gehabt. Fremdgegangen wird jeden Tag, aber so skrupellos, also das ist wohl noch niemandem passiert. Dass sie schon seit zwei Jahren keinen Sex mehr hatten, war doch Alarmzeichen genug, er hat ja immer gewollt, aber sie nicht. Kein Wunder, ließ sie es sich ja schön von seinem Arbeitskollegen besorgen, der ja auch sehr fruchtbar zu sein scheint, dieses Schwein. Als Mann kann man sich nie sicher sein. Die Freunde haben immer gesagt, was für ein tolles Paar sie waren. Selbst jetzt noch hört er das immer wieder.
Vor Jahren hat ein umsichtiger gemeinsamer Freund eine Regel festgelegt. Für zwölf Monate nach einer Trennung gilt: Es darf getrauert, gejammert und gezetert werden. Der Gehörnte darf jederzeit ein Gespräch einfordern, und die anderen müssen zur Verfügung stehen und sind verpflichtet, sich die Geschichte so oft anzuhören, wie der Verlassene es für richtig hält. Im Gegenzug ist nach Ablauf der Zwölf-Monats-Frist jede Art von Kommunikation über die Trennung absolut verboten. Die anderen dürfen sich bei Zuwiderhandlung verweigern.
Diese Regel funktioniert gut. Während Florian erzählt, rechne ich nach. Neun Monate darf er noch.
Vor uns liegt Oberstlieutnant Heinrich von Gutzmerow. 1785 – 1861. »Seid fröhlich in
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