Für hier oder zum Mitnehmen?
offene See denken und weitermachen.«
Wir prosten uns zu und photosynthetisieren noch mal ein wenig. Das auffälligste Gebäude, das man von unserer Bank aus sehen kann, ist das besetzte Haus. Linienstraße 206. Bunte Fensterrahmen und die unmittige Parole »Soldaten sind Mörder« schmücken die graubraune Fassade. Wenn ich nicht wüsste, dass das Zufall ist, würde ich denken, dass es eine Kunstaktion wäre. »Soldaten sind Mörder« als Parole gut sichtbar von jedem Grab auf dem preußischen Garnisonsfriedhof aus. Als würde man einem hilflosen Vampir eine Knoblauchkette umhängen.
Der Trommler meiner Band wohnte früher in dem Haus. So hatte ich das Heiligtum von innen besehen dürfen, es war gut bewacht gewesen und verschlossen, aus Angst vor Zwangsräumung. Im Erdgeschoss fehlte die Kellerdecke, sie war ersetzt worden durch dicke Taue, auf denen man zum Treppenaufgang, der zu den oberen Etagen führte, balancieren konnte. Das Erdgeschoss wurde damit zu einem bizarren hallenartigen Raum, der an ein altes Schiff erinnerte. Die Wohnungen, die sich oben befanden, hatten allesamt keine Türen, und jeder konnte jeden Raum nutzen. Größte Freiheit, keine Sicherheit. Der Trommler verschwand von heute auf morgen, mitsamt dem wertvollen alten »Orange«-Verstärker unseres Gitarristen. Später erfuhr ich, dass er heroinabhängig war. Das hatte ich als junges Kleinstadthäschen nicht bemerkt.
»Zumindest werde ich bald einen Ausgleich haben zu meinem piefigen Bürodasein«, unterbricht Florian meine Gedanken, »wenn das mit Magnus’ Projekt klappt.«
Das Filmprojekt. Ich hatte gedacht, Magnus wolle als Kunstfotograf arbeiten, aber Foto und Film liegen ja nah beisammen.
»Ja, von dem Filmprojekt habe ich gehört. Wärst du dann Schauspieler?«
»Filmprojekt? Davon weiß ich nichts. Ich meine seine Café-Eröffnung. Dafür würde ich Planung und Umbau machen.«
Meine Verwunderung kann größer nicht sein. Florian klärt mich auf. Magnus hat beschlossen, neben seiner Kunstfotografie als sicheres Standbein ein Café zu eröffnen. Angeblich habe er schon Räume auf der Torstraße an der Hand, aber als Florian auf eine Besichtigung drängte, wurde diese immer wieder verschoben. Das Café habe sogar schon einen Namen: Ettan + Tvåan. Das ließe sich nicht direkt übersetzen, es sei die Bezeichnung der Unisextoiletten in dem Café in Stockholm, das er geleitet habe. Das Café solle zur besseren Verständigung zwischen Frauen und Männern beitragen.
Schön, dass ich das auch mal erfahre. Damit hätte Magnus mir gegenüber offen umgehen müssen, bevor ich es von Dritten höre. Magnus scheint einiges vorzuhaben.
»Und Milena?«, fragt Florian. »Was ist mit dir und Milena?«
»Warum sprechen mich immer alle auf Milena an? Was soll schon mit ihr sein?«
»Ich dachte, da wäre schon längst was gelaufen. Zumindest hat sie solche Andeutungen gemacht.«
Ich nehme mir vor, Milena bei nächster Gelegenheit zur Rede zu stellen. Das muss geklärt werden. Florian stimmt mir da voll und ganz zu. Nach seiner jüngsten Erfahrung plädiert er für absolute Offenheit und Ehrlichkeit in Beziehungen.
»Dass es dich immer noch auf Friedhöfe zieht …«, wechselt Florian das mir offenkundig unangenehme Thema. »Früher habe ich das nie verstanden. Bei diesem Friedhof hier kapiere ich es zum ersten Mal.« Florian schaut sich wohlwollend um und sucht noch einmal die Sonne.
»Das lag doch an den Beerdigungen. Da gab es immer das meiste Trinkgeld. Mehr noch als auf Taufen und Hochzeiten.«
»Aber dich hat es ja auch außerhalb deines Ministrantendaseins zu den Toten gezogen. Das habe ich nie begriffen. Man geht doch nicht freiwillig auf Friedhöfe.«
Mit neun Jahren darf man Messdiener werden. In diesem Alter war ich tiefgläubig im Sinne der katholischen Kirche und konnte es gar nicht abwarten, nach meiner ersten heiligen Kommunion endlich Gott und seinem Priester dienen zu dürfen. Zuhause hatte ich Geschirr und Backoblaten und fertig gemischte Apfelschorle von »Merziger Fruchtsäfte« zusammengesucht, um auch dort die heilige Wandlung vornehmen zu können. In diesem Spiel war ich der Priester und mein kleiner Bruder der Messdiener. Wir haben etliche Backoblaten in den Leib Christi verwandelt und aufgegessen, sie schmeckten wie Esspapier, nach der Wandlung etwas süßer als davor.
Meine Messdienerkarriere und damit auch mein Glaube an Gott endeten jedoch mit einem einschneidenden Erlebnis.
Ich diente auf einer Beerdigung. Ein
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