Für hier oder zum Mitnehmen?
nicht. Rechts von mir sind zwei große Altbaudoppelfenster mit Blick auf die Spree, die Hochbahntrasse und die neue chinesische Botschaft auf der Kreuzberger Uferseite, die sich im ehemaligen Haus des DDR -Gewerkschaftsbundes FDGB befindet. Der Ausblick wäre bis auf ein paar Grad Winkelabweichung identisch mit dem Ausblick aus dem Golden Gate, vorausgesetzt, das Golden Gate hätte einen Ausblick. Vor den Fenstern steht ein runder Tisch mit zwei unterschiedlichen Stühlen, ein Mikrofon auf einem Ständer, eine vollbehangene Kleiderstange auf Rollen. Links von mir ist eine Tür, die zu einer kleinen Küche führt. Ein kurzer Flur geht neben der Küchentür vom Zimmer ab. Er endet direkt an der Wohnungstür. Die Ein-Raum-Wohnung ist aufgeräumt, aber vollgestopft mit allerlei Kram. Meine Klamotten liegen als ein Haufen neben dem Bett auf dem Boden, erstaunlich ordentlich zusammengelegt. Das lässt hoffen.
Mein sehnlichster Wunsch, der nach mehr Gästen in meinem Café, wurde gerade von Platz eins der Wunschliste verdrängt. Neuer Spitzenreiter ist der Wunsch, dass dies hier bitte nicht Milenas Wohnung ist. Bitte nicht. Der endgültige Beweis ist ja auch noch nicht erbracht.
Eine S-Bahn rattert an den Fenstern vorbei. Mein Kopf fühlt sich an wie der Endhaltebahnhof der BVG , in dem im Sekundentakt Züge einrollen und langsam und quietschend zum Stehen kommen. Meine Kehle muss jemand über Nacht mit Schmirgelpapier ausgekleidet haben, fein gekörnt. Es ist sehr früh am Morgen, ich habe höchstens zwei Stunden geschlafen.
Angenommen, es ist tatsächlich Milenas Wohnung. Was ist denn schon dabei? Wer sagt denn, dass irgendetwas zwischen uns vorgefallen ist außer guten Gesprächen an einem ausgelassenen Abend? Dass ich dann nicht mehr betrunken mit dem Fahrrad nach Hause gefahren bin, ist mehr als vernünftig. Das reine Übernachten bei Mitarbeitern wird Chefs doch wohl erlaubt sein. In den Staaten wäre ich nun schon wegen sexueller Nötigung verhaftet worden, aber wir sind im wilden Berlin des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ich bin nackt, aber ich schlafe immer nackt, das ist also völlig normal. Alles keine Beweise, höchstens Indizien, vor Gericht würde mein Anwalt diese in der Luft zerreißen.
Ich ziehe mich zügig an und gehe in die Küche, um nach Trinkbarem zu suchen. Ein wenig Leitungswasser lasse ich ablaufen, bevor ich das Ikea-Glas damit auffülle und es gierig hinunterstürze. Mir geht es ein klein wenig besser. Aspirintabletten finde ich, zwei davon verleibe ich mir mit Hilfe eines weiteren Glases Leitungswasser ein. Die Küche sieht nicht so aus, als würde hier häufig gekocht, sie wird augenscheinlich auch als Badezimmer genutzt. Da erst wird mir bewusst, dass die Wohnung keine Toilette besitzt.
Im Treppenhaus klimpert ein Schlüsselbund, ein Schlüssel wird in die Wohnungstür gesteckt, die Wohnungstür wird geöffnet. Ich falte die Hände, blicke nach oben zur Zimmerdecke, sehe die sogenannte russische Beleuchtung – eine Glühbirne in einer Fassung – und sage ganz leise vor mich hin: »Bitte lieber Gott, bitte nicht!«
An die Merziger-Apfelschorle, die ich als Kind zu Messwein verwandelt habe, denke ich.
Nicht Gott antwortet, sondern eine wohlbekannte Frauenstimme trällert: »Frühstück!« Leicht versoffen klingend, aber eindeutig Milena gehörend.
Ich atme tief durch und trete in das Zimmer. Milena stellt zwei Pappbecher zum Mitnehmen, die vermutlich mit Kaffee gefüllt sind, eine Tüte mit Backwaren, eine Ausgabe einer Berliner Tageszeitung und einen Orangensaft im Tetrapak auf den runden Tisch am Fenster.
»Guten Morgen! Gut geschlafen? Bringst du bitte mal zwei kleine Teller und zwei Gläser für den O-Saft mit?«
Milena hat alles im Griff. Sie sieht erstaunlich frisch aus.
Mechanisch führe ich den Auftrag aus. Alle meine Glieder schmerzen, ich fühle mich wie durch den Müllschlucker gezogen. Vor allem mein rechter Kiefer dröhnt, als hätte mich jemand geschlagen.
Noch ist hier nichts bewiesen, alles ist unter Kontrolle. Selbst wenn ich Sex mit Milena hatte – das ist doch kein Drama. Vielleicht werden wir ja ein Paar? Vielleicht lieben wir uns? Dann ist das hier auch alles absolut vertretbar. Dann mache ich sie zur Geschäftspartnerin. Dass sie auch in schwierigen Situationen mit anpacken kann, hat sie bereits unter Beweis gestellt.
Jetzt erinnere ich mich, dass ich letzte Nacht die entscheidende Frage nach uns beiden gestellt habe, ich kann mich nur nicht an die Antwort
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