Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
allem Überfluss konnte sie auch kaum dem Drang widerstehen Oliver anzurufen. Er hatte gesagt, sie könne sich jederzeit bei ihm melden. Aber sie wusste genau, dass sie damit ihre Probleme nicht würde lösen können. Immer und immer wieder erlebte sie im Geiste die unglaubliche Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte. Dann bekam sie jedes Mal Herzklopfen, sowohl vor schlechtem Gewissen als auch vor Erregung. Was würde sie nicht dafür geben, so etwas noch einmal zu erleben? Es würde sie nur einen Anruf kosten, das wusste sie. Aber wie konnte sie überhaupt in Erwägung ziehen, ihren Mann erneut zu betrügen, wenn dieser so furchtbar deprimiert war?
Aber allmählich hatte Sarah immer weniger Mitgefühl. Ian war so negativ geworden und dabei so unangenehm, dass das Leben mit ihm unerträglich war. Es war so weit gekommen, dass er sich nicht mehr rasierte, nicht mehr duschte und häufig bis mittags im Schlafanzug herum lief. Wenn sie sich darüber beschwerte, fauchte er sie an. Sie hielt sich so viel wie möglich mit den Mädchen außer Haus auf, was natürlich bedeutete, dass sie in dieser Zeit nicht arbeiten konnte, und das bedeutete, dass nicht genug Geld hereinkam. So konnte es nicht weitergehen. Als Sarah Ian neulich nahegelegt hatte, doch noch mal aufs College zu gehen, dachte sie, er würde sie gleich schlagen.
Und er ging überhaupt nicht mehr aus. Sie wurden dauernd zu irgendwelchen Partys und Grillabenden eingeladen, aber er weigerte sich stur, sich unter Freunde zu begeben, denn er wollte keine Fragen beantworten müssen. Alle wussten, dass er entlassen worden war, denn solche Neuigkeiten verbreiteten sich in der Regel ziemlich schnell.
»Ich bin ein verdammter Versager!«, hatte er sie angeschrien, als sie ihn einmal überreden wollte, eine Einladung zum Abendessen bei Freunden anzunehmen. »Ich will nicht von allen gefragt werden, was ich jetzt vorhabe! Die können mich alle mal kreuzweise!«
Sarah hatte sich nicht mit ihm angelegt, denn er war ja sowieso nicht bereit dazu, sich irgendjemandes Meinung anzuhören.
Immerhin hatte die Strandhütte ihnen diesen Sommer etwas eingebracht. Ian hatte sie auch für die letzte Ferienwoche vermieten wollen – sechshundert Pfund waren nicht zu verachten –, aber da war sie auf die Barrikaden gegangen. Die letzte Ferienwoche hatte immer ihnen gehört. Und sie brauchten alle Urlaub. Ian hatte schließlich nachgegeben, doch er hatte sich geweigert mitzufahren. Er wollte nicht auch noch all den anderen Strandhüttenbesitzern seine Situa tion erklären müssen.
Eine Woche ohne ihn in Everdene zu verbringen war eine Wohltat gewesen. Die Kinder, die aufgrund von Ians Verhalten immer stiller geworden waren, waren wieder aus sich herausgegangen. Und sie freuten sich alle drei auf die Party. Seit sie die Hütte gekauft hatten, waren sie jedes Jahr dabei gewesen, es war für sie alle der Höhepunkt des Sommers. Und obwohl sie so knapp bei Kasse waren, hatte Sarah jedem Mädchen ein neues Kleid gekauft. Im Schlussverkauf – damit sie nicht so ein schlechtes Gewissen zu haben brauchte. Und bei der Gelegenheit hatte sie auch für sich ein wunderschönes weißes, mit Perlen besticktes Chiffonkleid entdeckt, das auf ein Viertel des Originalpreises heruntergesetzt war. Es war tief ausgeschnitten und fast rückenfrei, aber wenn sie Flipflops dazu trug, würde es nicht nuttig wirken. Sarah hatte mit ihrem Gewissen gerungen, war mit den Mädchen in ein Café gegangen, hatte sich dagegen entschieden, war dann aber, auf dem Weg zum Auto, noch einmal zurückgelaufen und hatte es gerade noch geschafft, ehe der Laden zumachte.
Als alle Plätzchen mit Zuckerguss überzogen waren, legte sie sie zum Trocknen in den Schrank, wo es kühler war. Es war Zeit, sich umzuziehen. Immer wieder schaute Sarah nach, ob Ian eine SMS geschickt hatte, um Bescheid zu sagen, dass er es sich anders überlegt hatte und auf dem Weg nach Everdene war. Insgeheim war sie jedes Mal erleichtert, wenn sie keine Nachricht von ihm auf ihrem Handy vorfand.
Sie hielt ihr neues Kleid am Bügel hoch. Es würde fantastisch aussehen. Sie hatte sich ein Paar dazu passende silberne Creolen gekauft. Sie seufzte. Was hatte es für einen Zweck, sich aufzubrezeln, wenn ihr Mann sowieso nichts mit ihr zu tun haben wollte und der Mann, den sie begehrte, tabu war?
Fiona hatte sich auf der winzigen Toilette der Strandhütte eingeschlossen. Sie zitterte.
Es war so weit. Das war ihr erster Test. Sie würde es schaffen. Sie
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