Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
Hände auf die Knie gestützt, und atmete tief ein, um die aufsteigende Panik und den Würgereiz zu beruhigen.
»Alles in Ordnung?«
Es war Roy.
Er blieb stehen und stellte seine Werkzeugkiste ab. Offen bar war er unterwegs zu Reparaturarbeiten in einer der Hütten.
»Geht schon. Ich … hab gestern Abend Muscheln gegessen. Ich glaub, die sind mir nicht bekommen.« Sarah richtete sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn.
Roy lachte mitfühlend. »Die Rache der Muscheln, was?«
Sie nickte und zeigte kraftlos auf die Hütte. »Ich bin gerade dabei, alles für die ersten Gäste vorzubereiten.«
»Wir werden wohl einen guten Sommer kriegen.«
»Wollen wir’s hoffen, nach letztem Jahr. Ich wundere mich, dass wir überhaupt Buchungen haben, nach all dem Regen.«
»Die Menschen lieben eben das Meer. Das wird immer so bleiben.« Er nahm die Werkzeugkiste. »Ich muss weiter. Hoffentlich erholen Sie sich bald wieder. Ich empfehle Ihnen Z itronenlimonade – das hilft.«
Sarah ließ sich auf die Stufen sinken und sah ihm nach. Ihr Magen hatte sich etwas beruhigt, aber sie war schweißgebadet.
Es war Ebbe, und bis zum Wasser waren es mehrere hundert Meter über das Watt. Trotzdem, genau das brauchte sie jetzt. Sie würde ins Meerwasser tauchen, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen.
Eine halbe Stunde später schwamm sie auf dem Rücken und schaute in den Himmel, während die Wellen sie langsam zurück ans Ufer spülten.
Sie spürte, wie das Salzwassser jeden Rest von Oliver von ihrem Körper wusch. Am liebsten hätte sie sich ewig so treiben lassen, wie irgendein hirnloses Meeresgeschöpf, dann hätte sie alles vergessen können und sich nicht den Konsequenzen ihres Tuns stellen müssen. Aber es gab kein Entrinnen. Sie musste ihr Leben, ihre Ehe und ihre Gemütsverfassung unter die Lupe nehmen und herausfinden, was da eigentlich schiefgegangen war.
Irgendwann war sie komplett aufgeweicht. Ihre Fingerspit zen waren schon ganz runzlig. Sarah stand auf und wa tete ans Ufer, die Lippen trocken und rissig. Sie hatte schreck lichen Durst. Kein Wunder angesichts der Menge Alkohol, die sie gestern getrunken hatte, der körperlichen Anstrengung und der Sonnenhitze.
Den Rest des Tages verbrachte sie mit Lesen am Strand. Sarah fühlte sich immer noch müde und erledigt. Die letzten Spuren ihres nächtlichen Abenteuers würde sie eben später verwischen müssen. Sie hielt Mittagsschlaf, löste ein paar Kreuzworträtsel und genoss die warmen Nachmittagsstunden in vollen Zügen. Schließlich bemerkte sie, dass die Sonne schon langsam zu sinken begann. Der Tag war im Nu verflogen.
Als sie den Strand hinunterblickte, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie sah tatsächlich Ian, der gerade entschlossen auf sie zukam, eine Tochter an jeder Hand. Die Mädchen hatten ihre Schulkleidung nicht an. Was zum Teufel war passiert? Waren die Kinder nicht in der Schule gewesen? Hatte Ian sich einen Tag freigenommen, um sie zu überraschen? Was, wenn er am Abend zuvor gekommen wäre und sie mit Oliver überrascht hätte?
Bei diesem Gedanken gefror ihr das Blut in den Adern. Was, wenn jemand sie beobachtet und Ian angerufen hatte, um ihn ins Bild zu setzen? Aber Ian würde doch wohl kaum die Kinder mitbringen, wenn er vorhätte, sie zur Rede zu stellen – oder?
Sarah konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, als er schließlich vor ihr stand, aber da wurde sie auch schon von den beiden Mädchen überfallen, die vor Aufregung über den unerwarteten Ausflug fröhlich jauchzend um sie herumhüpften.
»Was macht ihr denn hier?«, fragte sie, bemüht, erfreut zu wirken und sich ihr schlechtes Gewissen nicht anmerken zu lassen.
»Nicht jetzt. Warte, bis die Mädchen im Bett sind.«
Er wirkte niedergeschlagen, ein bisschen düster. Sarah schlug das Herz bis zum Hals.
»Hast du die Mädchen vom Unterricht befreien lassen?«
»Ja. Sie haben sich gefreut wie die Schneekönige.« Er lächelte, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Irgendetwas stimmte nicht.
»Ich habe gar nicht genug zum Abendessen da. Wir werden uns mit Fish ’n’ Chips begnügen müssen.«
Und wenn er in den Mülleimer schaute? Darin lagen die Muschelschalen, viel zu viele für einen allein, und die leeren Flaschen. Und sie war sich ganz sicher, dass die Weingläser auch noch auf dem Abtropfgitter standen.
»Vielleicht könntest du ja was besorgen, während ich …« Tja, was? Alle Spuren meiner Untreue verwische? »Ich räum nur meine Malsachen weg. Du
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