Für immer, Emily (German Edition)
Verfügung gestellt, und er verbrachte viel Zeit hier drinnen. Er schnitzte gerne, und im Laufe der Zeit hatte er einige wirklich schöne Sachen zustande gebracht. Im Moment arbeitete er an einem Holzrelief mit einer Berglandschaft. Es machte ihm großen Spaß, die Dinge möglichst plastisch darzustellen, er arbeitete für gewöhnlich mit viel Liebe zum Detail. Heute allerdings konnte er sich nicht richtig konzentrieren, weil er ständig an Emily und die Begegnung mit Rocco denken musste.
Er war auf dem Weg zu seinem Motorrad gewesen, als er die Gruppe um diesen Mistkerl Rocco Bentz mit dem üblichen hirnlosen Gelärme über den Platz schlendern sah. Und er hatte Mara und Emily gesehen, die eilig auf Maras Auto zugingen. Er wusste, dass Mara Rocco nicht ausstehen konnte, so wie ungefähr fünfundneunzig Prozent aller anderen Schüler ihn ebenfalls verabscheuten. Das war also nichts Neues. Neu war Emily ... und der Ausdruck in ihren Augen. Sie hatte sichtlich nervös neben dem Wagen gestanden und in ihrem Blick war nackte Angst zu sehen gewesen. Er hatte zwar keine Ahnung gehabt, warum, aber er hatte gar nicht anders gekonnt, als auf sie zuzugehen. Dann war ihr die Tasche runter gefallen, und somit hatte er eine gute Gelegenheit gehabt, in ihrer Nähe zu sein, ohne dabei irgendwie aufzufallen. Er wusste nicht, warum, er konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas hatte ihn gedrängt, sich unbedingt zwischen sie und diesen Möchtegernmacho Bentz zu stellen. Und nun saß er hier und grübelte, warum er das getan hatte. Rocco hatte Emily weder beschimpft, noch beleidigt, noch gar angegriffen, und dennoch hatte er dieses Bedürfnis in sich verspürt, sie vor ihm zu schützen. Dabei war sie ihm doch völlig egal. Sie war ihm sogar lästig. Er wäre froh, nicht neben ihr sitzen zu müssen. Lieber würde er neben einem seiner Freunde oder wenigstens einem Mädchen sitzen, das ihn nicht ständig abwechselnd ignorierte oder erschrocken ansah. So sah es aus, und doch wusste er, er hätte sich heute ohne zu zögern für sie geprügelt, wenn Rocco sie angefasst hätte. Er war wohl verrückt geworden. Absolut durchgedreht.
Verärgert legte er die Arbeit weg, zog das Handy aus der Tasche seiner Jeans und wählte die Nummer seines besten Freundes. „Kevin? Hi, hast du Zeit? Können wir uns sehen? Okay, treffen wir uns da. Bis gleich.“ Er sprang auf, schnappte sich seine Jacke und war gleich darauf zur Tür draußen. Sein Vater war wie üblich noch im Büro um diese Zeit und vermutlich würde es wieder spät werden. In ihrem Männerhaushalt hatten sie nicht viele Gemeinsamkeiten, ehrlich gesagt, fast keine. Sie sahen sich eigentlich immer nur im Vorbeigehen.
Er ging durch den Vorgarten in die Garage, wo die schwarze Kawasaki stand. Er hatte lange gespart für diese Maschine und sein Vater hatte den Rest draufgelegt. Das war immer so gewesen, dass Peter Delaney alles getan hatte, wozu er finanziell in der Lage war, um seinem Sohn seine Zuneigung zu zeigen, die er ansonsten so oft entbehren musste. Peter arbeitete viel und lange, er war leitender Angestellter in einem großen Handelsunternehmen in Boston, verließ meistens früh das Haus und kam erst spät am Abend zurück, wobei auch oft die Wochenenden keine Ausnahme bildeten. Niclas hatte gelernt, damit zu leben, dass sein Vater nur wenig Zeit für ihn hatte. Es hatte Phasen gegeben, in denen er sehr gelitten hatte, und dann wieder welche, in denen er heftig gegen Peter rebelliert hatte. Mittlerweile verstanden sie sich zwar gut, aber es war kein besonders inniges Verhältnis. Die Zeit in Europa hatte sie einander allerdings näher gebracht, denn dort hatte Peter geregeltere Arbeitszeiten gehabt als hier.
Niclas‘ Mutter war vor fast acht Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, und Vater und Sohn hatten jeder auf eigene Weise lernen müssen, damit zurechtzukommen. Peter hatte seine Frau Ashley sehr geliebt und trauerte immer noch um sie. Seit ihrem Tod hatte er nur einige Male eine flüchtige Bekanntschaft gehabt, aber nie etwas Ernstes. Er veränderte sich, lachte selten, war ein nachdenklicher, grüblerischer Mann geworden, dem es schwer fiel, Gefühle zu zeigen. Für seinen Sohn war das alles andere als leicht, er war elf Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb, stand kurz vor der Pubertät und fühlte sich allein gelassen mit seinem Schmerz und seiner Trauer ...
Niclas zog frustriert den Helm über den Kopf und startete die Maschine ... er hatte keine Lust
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