Für immer in Honig
Schlimmste ist, daß unsere Mathelehrerin = Klassenlehrerin = Physiklehrerin und EDV -Lehrerin. Das ist echt Horror. Na ja, zum Glück haben wir jetzt nur noch 2 Wochen Schule, dann ne Woche Projekttage und dann 2 Wochen Herbstferien. Na ja, ich hör jetzt mal auf.
Bis bald
Julia
Kurz überlegte sie noch, ob sie was druntermalen sollte, eine Ratte vielleicht oder einen Nazi, der von Andy verprügelt wird. Julia war immer sehr gut beim Zeichnen, wenn auch nicht im Kunstunterricht.
Dann aber ließ sie das bleiben, weil sie plötzlich fürchtete, daß man der Zeichnung ansehen konnte, was der Brief verbarg: Wie herzzerreißend sinnlos abgründig traurig sie dauernd war, den ganzen Tag, und wie ganz genau sie wußte, daß das für sie ab jetzt immer so weitergehen würde, daß das alte Leben wirklich weg war, getötet vom Zufall, und das neue halt ein ganz normales. So schlägt mein Herz, es schlägt in mir, Stunde um Stunde, es schlägt für sich, für dich und mich, jede Sekunde, so lebe ich, eine von vielen, kein Einzelfall.
6 Der Ausbruch zweier Verurteilter aus dem Jugendstrafvollzug war das Schwierigste nicht. Wenn man sich vernünftig absprechen konnte – per Zettelchen und so, übern Anwalt – war’s sogar fast beleidigend einfach.
»Eine meiner leichtesten Übungen«, sagte von daher sehr berechtigt Klaus, der ältere Utzer, am Steuer eines vor zwei Stunden frisch geknackten Wagens, auf der Karlsruher Autobahn nach Süden, zu Joachim, dem mißverstandenen Einzelkind aus der Familie Behnke.
Dieser schmatze zustimmend, einen schon gut eingespeichelten Bifi-Brocken im Mund: »Dein liebs Brüderle wird gucke!«
»Wird er wohl«, nickte Klaus Utzer, voll Vorfreude auf die alten Jagdgründe, die sein kleiner Bruder, der Dokter, neuesten Nachrichten zufolge ganz prima in Schuß gehalten und sogar ein wenig aufgeräumt hatte.
Daß die beiden badischen Nazis im Fach Ausbrecherei so gut waren – eine vorgetäuschte Krankheit mit Verschickung zur Augenklinik und einmal Dienst in der Wäscherei, günstig auf denselben Tag gelegt, reichen als Startfenster, eine Sozialarbeiterin und ein Zivildienstleistender kriegen was auf die Fresse, presto, man ist draußen und trifft sich bei vertrauenswürdigen Kameraden, um das weitere Vorgehen zu besprechen und die Klamotten zu wechseln –, daß das alles so schön rund gelaufen war, lag daran, daß sich Leute ihres Schlages, weil sie bei ihrem Treiben viele tausend Jahre Geschichte im Rücken hatten, die von niemand anderem bestimmt worden waren als ihresgleichen, selten einen großen Kopf darüber machen mußten, was jeweils zu tun war.
Es ging für sie meistens, dem Abenteurer-Image zum Trotz, das man in ihren Kreisen gern von sich projizierte, alles glimp flich aus – niemand wurde gefoltert, gequält, verbrannt, eingesperrt, in Isolationshaft gesteckt oder auf sonst eine technokratisch gewitzigte Weise verrückt gemacht beziehungsweise gekillt. Nichts dieser Art beispielsweise hatte sich ereignet, als in der kurzen Zeit, die nötig war, vom völkischen Aufstand gegen Flüchtlinge bis zum Asylkompromiß zu kommen, mehr Sach- und Personenschaden angerichtet wurde als je durch die verbissenen Leutchen von der Roten Armee Fraktion.
Nazis vom Schlage Utzer / Behnke hatten was verstanden, was man linken Intellektuellen selbst mit Schlägen und Elektroschocks einfach nicht beibringen kann: daß Karl Marx völlig recht hatte, als er lehrte, daß das falsche oder richtige Denken nicht von seinem Gegenteil, also dem richtigen oder falschen Denken besiegt werden kann, sondern das Denken sich bloß ändert, wenn sich die Zustände ändern, in denen sich die Denkenden finden.
Es bringt also genauso wenig, immer wieder Aufklärung der Sorte »Neger sind auch Menschen« zu lancieren, um das falsche Denken von Nazis zu korrigieren, wie es bringen würde, Tag und Nacht Flugblätter zu verteilen, auf denen böse Karikaturen mit Juden und Schwarzen und Schwulen drauf sind, um den Faschismus vorzubereiten. Daß Marx den Leuten irgendwas erklären wollte, damit sie danach richtigere Ideen haben und irgendwas »durchschauen«, von dieser junghegelianischen Wahnidee, die Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie« für alle Zeiten gültig abgewatscht hatten, lebten linke Intellektuelle wie Robert Rolf, Dieter Fuchs oder Philip Klatt schon seit vielen Generationen, als Behnke und Utzer geboren wurden.
Marx war, ich wiederhole, anders als sie, rechtschaffen pessimistisch gewesen,
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