Für immer in Honig
Schlagring in der einen Faust und der Pistole, die Astrid Schacko abgenommen hatte, in der anderen. »Aufstehen und an die Wand!« brüllte Schorsch mit vorgehaltener Flinte, die zwar ein echtes, höchst ernst zu nehmendes Jagdgewehr seines Onkels war, aber in den Händen dieser erbärmlichen Gestalt, die da so beschemselt rumbrüllte und sein Sprüchlein immer wieder wiederholte – »Aufstehen, und an die Wand ! Aufstehen! An die Wand!« –, eher wirkte wie eines dieser billigen Luftdruckgewehre, mit denen Astrid auf dem Chalde Märt sich früher so gern Teddybären und Plastikrosen geholt hatte. Philip fing an, leise zu lachen, als die Kotzparole zum zweidutzendsten Mal gebrüllt wurde, Astrid überlegte schon, wie sie gleich genau wen angreifen sollte. Allmählich schmerzhaft angestrengt, mit sich überschlagender Stimme, schrie Schorsch schon wieder: »Auf! Stehen! An die Wand!«
4 An der westlichen Außenwand der »Sonnenblume«, angrenzend ans Kino, stand in diesem Augenblick Valerie Thiel, in jeder Hand ein Messer, die Reisetasche über der rechten Schulter, umzingelt von Soldaten mit MP s vor der Brust, und zog die Oberlippe zurück, daß man ihre weißen Zähne sah.
Ein Oberstleutnant schrie: »Laß die Messer fallen, Mädel!«, er hatte mit Partisanen Erfahrung, so meinte er, und wußte, wie man mit denen reden mußte.
»Geht nicht«, sagte Valerie, »die sind ich. Und jetzt laßt mich vorbei.«
Ihr Zug aus Basel war vor einer Viertelstunde angekommen, am Bahnhof hatte ein Gedränge der Sorte »Fuchs im Hühnerstall« sie empfangen: Zombotiker und solche, die es hätten sein können, dafür aber zu abgerissen aussahen, in löchrigen und angefressenen Uniformen, hatten die Aussteigenden umringt, fast verschluckt. Valerie hatte sich freigeboxt und war über die Straße gelaufen, wo der Verband sie abfing, der sie nun umstand.
»Ich muß zur Schule«, sagte sie, weil ich das wirklich mußte und sie ja ich war, aber auch, weil Philip wenige Kilometer weit weg vor einer großen Entscheidung stand und ich, das heißt: Schöninchen verhindern mußte, daß er sich falsch entschied, und weil ein gewaltiger Wind sich überm Wald und um die dunkelgrauen Wolken sammelte, in Wirbeln, in Säulen.
Der Oberstleutnant lachte schleimsatt, denn er war erkältet, und wollte seinen Männern was befehlen. Dann war er jedoch abgelenkt: Das Messer in der Brust empfand er, obwohl tot, als störend, schon weil es seine Lunge traf und Blut ihm jetzt die Atemwege füllte. Eine Esche stand rechts neben ihm und stöhnte: Yggdrasil, enttäuscht vom Ablauf, bis in die Wurzeln.
Die Greifer des Dokters trampelten auf Philips Platten rum, näherten sich den zwei Nackten. Der auferstandene Utzerbruder und Ex-Geliebte Astrids steckte ein langes Messer wieder weg und griff auf dem Wohnzimmertisch nach Astrids Züchtigungsrute, mit der sie auf dem Kalten Markt den armen Rosentamilen mißhandelt hatte.
»Auf … Auf … Wand!« pfiff Schorsch, blau angelaufen, als die Bande sich um die schutzlos am Boden liegenden, sich schwach regenden Menschen im fast ganz geschlossenen Kreis Aufstellung genommen hatte.
»Au…Wand …«
Schorsch fragte sich in seinem dunklen, stickigen Kopf flüchtig selber, woher er dieses Geschrei, jetzt nur noch Geröchel, eigentlich hatte. Der Dokter, der noch nie in seinem Leben dumm gewesen war, merkte immerhin als erster, daß mit den ständigen Wiederholungen der Aufforderung, aufzustehen und sich an die Wand zu stellen, etwas überhaupt nicht stimmte. Schorsch hauchte seine Losung schließlich nur noch, holte dabei nicht mehr Atem, lief Gefahr, aus Sauerstoffmangel die Besinnung zu verlieren. Die Flinte in seinen Händen zitterte, der Lauf fuhr hin und her. Jetzt war er auf Andy gerichtet, statt auf das ertappte Paar. Rainer Utzer sah Philip ins Gesicht und erkannte, daß der die Augen geschlossen und die Brauen zusammengezogen hatte. Er konzentrierte sich. Sehr richtig erriet der Dokter, daß Philip, entweder instinkthaft oder vorsätzlich, ernsthaft versuchte, Schorsch zu sein, ja, daß sein Wille sich bereits im Kopf des Krächzers befand, aber das glitschige Gehirn nicht recht zu fassen kriegte. So tat der Dokter etwas, das Schorsch in diesem Moment das Leben rettete – drei Sekunden später, und Philip hätte den Atemreflex abgestellt: Rainer Utzer trat Philip mit der beschlagenen Stiefelkappe direkt in den Mund.
5 Als sie den kleinen Pioniertrupp zwischen Kino und »Sonnenblume«
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