Für immer in Honig
viel schlimmer werden, bevor Agrarstudenten und Jungstewardessen begreifen, wie kaputt sie sind, was für Käseträume man ihnen verfüttert hat und wie albern das rausgekommen ist, was sie aus sich gemacht haben, so bedrückt aufgekratzt.
Ein Stück Weges hinter Fulda, auf offenem Gleis, wurde der Zug viel langsamer.
»Personenschaden«, sagte die Durchsagestimme. Valerie verstand: Jemand hat sich vor den Zug geschmissen. Selbstmord: die würdige Antwort auf eine alles umfassende Erpressung, die man ansonsten nur mit Heuiojo, jeu jeu, ui ui lileu übertönen konnte? Ich, das innere Rölfchen, kannte das gut, diese Art Bahnverkehrsverzögerung. Ein besonders lichter Morgen war mir ihr in Erinnerung, durchzufahren von Freiburg bis Frankfurt hatte ich geplant, Mannheim war schon passiert, aber dann: Pardon, Personenschaden, wieder zurück, dann über eine andere Strecke nach FfM, insgesamt drei Stunden Fahrt zur Arbeit. Endlos das alles, jeden Tag, die einen werden am Leben gehindert, weil die andern sterben, immer noch eine Stunde Leben drangeben für noch mal genau was?
Stewardess und Agrarhans wurden lauter, jeu jeu, nächster Rechenschritt, ui ui, beubel heuwel, nächster Rechenschritt. Gespräche führen, von denen man jederzeit sagen kann, worum es in ihnen in einer weiteren halben Stunde immer noch oder schon wieder gehen wird.
Was für ein Programm wurde da erfüllt? Wieso war das denen so wichtig, es sich und einander zusammen einfach genug zu machen, um sich leichter auszurechnen? Dabei wäre ja Berechnung, stünde man zu ihr, als Kreuzung aus dem schönsten Spiel und der freiesten Absichtlichkeit, vielleicht schon die von allen noch nicht restlos Abgestumpften ersehnte Erlösung sämtlicher Sozialverhältnisse von ihrer vorgegeben resignierten Verschlamptheit. Womöglich ist es das genau, was die Leute so ausdauernd böse macht: Sie müssen, solange die Dinge liegen, wie sie hingefallen sind, andauernd rechnen, um zu überleben, dürfen das aber zugleich nicht zugeben. »Das war«, sagte ich zu Jenny, »den Reaktionären schon an der bürgerlichen Aufklärung aufgefallen, hatte schon rund um die Französische Revolution für erstklassige Hetze gesorgt, dieses endlich aufatmend zugegebene Mathematische, der unverschämt freimütig rechnende Zug am Denken der neuen Epoche, der klerikalen und monarchistischen extremen Rechten sofort ein Dorn im Auge, wie später Utilitarismus und Darwin. Flugblätter kursierten, wußtest du das, auf denen ›Le Calculateur Patriote‹ abgebildet war, der saß an seinem Rechentisch, auf dem die abgeschlagenen Köpfe der Frommen lagen, während er seine Tabelle studierte, mit effeminiert übereinandergeschlagenen Beinen natürlich. Die Hersteller solcher Hetze, Frondeure der Freiheitsverhinderung, Leute wie Burke, de Maistre, später Hippolyte Taine, waren sich einig, die ›Fülle und Komplexität der Tatsächlichkeiten‹, auf deutsch: die beschissene, blind vorgefundene Form von Elend und Herrschaft, die sie mit ihrem letzten Rest Hirnschmalz zu verteidigen entschlossen waren, werde, so ihre Warnung, durch das rechnende Denken in unbotmäßiger und unstatthafter Weise verkürzt, beschnitten, angegriffen, wo kommen wir denn da hin. Taine: ›Was sie wegwerfen können, werfen sie weg. Nichts bleibt am Ende übrig als ein verdichteter Extrakt, ein verdampftes Residuum, ein fast leerer Name, kurz, eine hohle Abstraktion.‹« Jenny sagte: »Schreib das mal zusammen, das ist gut.«
Es fing aber an zu regnen.
Schlieren schleckten die verspiegelten Fenster runter als diagonal geschlängelt aderfarbenes Licht, der Zug nahm wieder Fahrt auf. Wie er dann sofort nur immer noch schneller wurde, zickten die dünnen Wasserbahnen fast waagerecht übers Glas. Valerie war einsam hier, im Großraumabteil, und voller Erwartung, denn jetzt begann der gefährliche Teil. Bitte, lieber viel zu alter Mann in meinem Kopf, komm mir jetzt mit keinen Erinnerungen und Überlegungen mehr, die mich und meine Reise erklären könnten, nichts aus der Französischen Revolution oder deinem Jugendkram mit Jennifer. Denn ich will es gar nicht verstehen, sondern für den Moment nur so lassen, die Erwartung, die Ahnung von gefräßigen Gefahren, das macht mich glücklich.
Ich fügte mich; sie hatte recht.
2 Die Mütter von Robert Rolf und Philip Klatt, Irmgard Klatt geborene Goerke und Gabriele Rolf geborene Heß, die einander erst viele Jahre später bei einem Elternabend der gemeinsamen
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