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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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kam.
    Der war dann das wahre Zombieregiment geworden. Hier nagt der Wurm auch unter der Woche am Gehenkten. Einige weinen, die es ­direkt angeht, andere schieben sich schnell vorbei. Kein Untergang, nur eine »Umstrukturierung«, »Konsolidierung«, ein »Relaunch«, eine »Neuformatierung«, ein »Regrouping«, nein, anders, es lag der Kollaborateurin doch schon auf der Zunge, wie sagte man gleich für Vorgänge, bei denen die Macht der Toten über die Lebendigen ein weite res Stück, oder, wie in diesem Fall: von »weitreichend« zu »fast vollständig«, gestreckt wurde? »Auf nach wie vor unerforschtem Weg.«
    Eine Reform. Das war’s.
    War’s das?
    Die Kollaborateurin wusch sich nicht im schmalen Bad, wo der ­Wasser­hahn seit zwei Jahren zickte, sondern in der Küche, wo sie sich außer dem besser bewegen konnte. Dabei hörte sie das Radio was von ­»Miet­erhöhungen bei Sanierungsgebäuden, vor allem rund um die Tempelbaustelle«, gut: Das betraf sie nicht. Obwohl: andererseits schon, denn die Tempelbaustelle war einer ihrer Arbeitsplätze.
    Die Zahnbürste kam ihr zu rauh vor, sie fuhr mit dem Finger im Mund rum, zog ihn raus: Blut. Das Zahnfleisch also wieder mal, »keim Wumber bei ber Ermähung«, wenn man’s Ernährung nennen konnte. Arm leben, schon vor dem Totentanz ärmlich: Dies war die richtige Stadt dafür. Wie er die Zeitung damals triumphierend wedelnd in der Hand gehalten hatte, an der Supermarktkasse: »Siehst du? Bei manchen Arztpraxen in Großberlin seit Schröderschmidts Gesundheitsreform bis zu fünfzig Prozent weniger Patientenfrequenz – das ist so, weil es sehr viele richtig arme Leute gibt hier, mehr als in anderen Städten, wo die Praxisgebühr nicht so ins Gewicht fällt. Aber hier: Ja, da muß ich mich entscheiden, will ich mir genug Kohlen kaufen oder friere ich ein bißchen und laß den Onkel Doktor dafür mal wieder die Krampfadern abtasten?«
    Ach, wie er immer stolz gewesen war, auf seinen harschen Sozialrealismus: »Alte Menschen erfrieren hier, Judith. Erfrieren. In einer Metropole. Im einundzwanzigsten Jahrhundert.« Das war der Ton gewesen. Sie hatte ihn gehaßt, diesen Ton, seine unterkiefervorschiebende Rächerdringlichkeit; natürlich vermißte sie ihn jetzt.
    Was hätte er zu sagen gehabt, zum neuen Regime?
    Sie sind nicht mehr am Leben
Sie sind nicht tot
Wenn ich sie seh, dann seh ich rot
    Alte Lieder, neue Strophen, schwarze Flocken in der Dunkelheit. Sie ließ das Wasser richtig brodeln im Plastikerhitzer: Lieber den Mund verbrannt und dafür die Eingeweide gewärmt als weiter so langsam brav von innen heraus erfroren. Wozu aber bitte war das eigentlich gut gewesen, dieses Besserwisserbißbösestakkato aus seinem lauten, verärgerten Mund immer? Konnte man denn was machen?
    »Man könnte vielleicht, wenn man denn wollte.«
    Und was willst du?
    »Ich will wenigstens wissen und sagen, was mit mir passiert. Wenn ich auch noch stillhalte und schweige, dann kann ich es ja gleich gut finden, was sie mit uns anstellen.«
    Gab’s was zu sagen? Könnte man was wollen? Wie war das möglich gewesen, daß dieser ekelhafte neue Alltag nicht aufgehalten wurde? Wie gerne wäre sie oben, draußen.
    »Wer enttäuscht ist, war naiv«, wiederholte die Kollaborateurin einen Slogan der Résistance, und weil’s tatsächlich ein guter Slogan war, anders als manche Parolen, die diese Leute absetzten, fiel ihr sofort alles ein, was in den Mund-zu-Mund-Kommuniqués und auf den Flugzetteln des Widerstands an diesem Sprüchlein dranhing: So war’s doch immer, jedes Sterben, jedes Elend, das sie nicht selbst zu betreffen schien, haben sie passieren lassen, sehr laissez-faire, das Ganze, man denke an AIDS, man denke.
    Man dachte. Es brachte nur nix.
    »Auf nach wie vor …«
    Herzlich willkommen, zurückgekehrte Einzige, inmitten eures neuen Eigentums.
    Ooh, sie kommen aus desouveräner Staaten sein mür Hölle
Ooh, denn da gibt es viel zu viele
    Die Kollaborateurin schob die Klappe des Brotkastens hoch, ging ein bißchen in die Knie und schaute sich in dieser leicht komischen Hal tung sachte kopfschüttelnd das traurige schwarze Zeug an, das da drinnen wie eine bröckelnde Koboldfamilie hockte. Sie schob den Kasten wieder zu und sagte »Besatzungszeit« zum Radio, das jetzt auf Hörerwünsche einging: »In the Army now« von Status Quo.
    »… unerforschtem Weg.«
    »Ja, schon, aber …«, sagte die Kollaborateurin und legte, Knopf um Knopf mit kalten starren Fingern schließend, ihre

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