Für immer in Honig
waren und sie jetzt beobachteten: Na, ich tu ja nur meine Pflicht, wenn ich mir das Gesicht der Störenfriedin einpräge, oder? Die Wolle kratzte auf der Glatze. Auch so ein neumodischer kategorischer Imperativ: Haare ab, sonst Läuse- und Seuchengefahr.
Frauen mit Glatzen fand er auch immer geil – beim Wiederaufnehmen des Korbs erinnerte sich Judith Neumann kopfschüttelnd an eine Silvesterparty vor fünf Jahren, da war so ein Mädchen gewesen, natürlich blutjung, eine Fremde, mitten im Trubel, an öffentlichem Ort, und er, komplett betrunken, machte sich immer wieder verlogen unbeholfen an sie ran, dabei waren da nicht mal Stoppeln, es war ganz glatt, poliert, irgendwie krank, wie ein Nacktmull – klar fand er das sexy, so künstlich, so, pardon, Wortspiel: verkopft, wie das aussah.
Judith schnaufte und wackelte, schon frühmorgens entkräftet, auf die Brücke zur Dänenstraße zu, auf längst schon viel zu gut erforschtem Weg, alltäglich hoffnungslos.
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Kolonne abschreiten • Abzweigung genehmigen
1 »Morgen.« Reulands Hand am Haaransatz, nachlässig.
»Guten Morgen!« Hand des Soldaten am Haaransatz, präzise, schöne brettflache Kante.
»Mogm.« Hand wischt über der rechten Augenbraue durch die Luft.
»Guten Morgen!« Hand des Soldaten am Haaransatz, perfekt.
»Momm.« Hand an der Schläfe vorbeigezogen.
»Guten Morgen!« Erstklassiger Salut des Soldaten.
»Mmmhf.« Müdes Winken Reulands.
»Guten Morgen!« Respektvoll, zackig grüßt der Mann im Tarnanzug.
Sie mochten ihn wirklich, man stelle sich das vor. Als der vierte Soldat Reulands zunehmend verwaschenere Grüßerei mit einem Gegengruß erwidert hatte, an dessen Ende das kerzengerade Ausrufezeichen stand, das ihn jedesmal so freut, war der Oberbefehlshaber derart guter Laune, daß er seinem Adjutanten, einem blassen Mecklenburger mit Aknenarben auf beiden Wangen, der vor schwer beherrschtem rührendem Eifer förmlich brannte und zitterte, launig zuflüsterte: »Inzwischn binich schone Vierlstunde nahm Aufstehn besoffn – unsstört keine alle Drexau!«
»Haha!«, wieder das Ausrufezeichen. Natürlich stimmte die Bemerkung nicht, war eher ein kleiner Loyalitätstest – wird er drüber lachen? Wird sich das Lachen anhören, als ob es dem Jungen unangenehm ist, daß ich mich selber so auf die Schippe nehme? Nein: Besoffen war der Oberbefehlshaber, ehemals das flinke Scheusal, ehemals Matjasewitsch, ehemals Beinahe-Mathematiklehrer Christof Reuland aus Lörrach, eine viertel, inzwischen eher: eine halbe Stunde nach dem Aufstehen noch nicht.
Er hätte sich’s aber leisten können, und darauf kam es an. Die Panzerverladung am militärischen Bahnhof Friedberg, die er an diesem bleigrauen Wintermorgen persönlich inspizierte, war bei Gott kein Weltereignis. Ameisenparty: All diese mit der Vorbereitung der Verlegung beschäftigten Soldaten auf den Ladeplattformen der Schienenfahrzeuge hier würden nicht mehr weit auf der Welt herumkommen, wenn sie erst mal mit ihren schweren Vehikeln in den östlichen Kampfgebieten eingetroffen waren. Also würden sie auch niemandem erzählen können, was für eine Figur der große Feldherr bei ihrer unzeremoniellen Verabschiedung um fünf Uhr morgens gemacht hatte. Außerdem, dachte Reuland, entschlossen vorwärtsstiefelnd durch den nicht sehr hohen Schnee und gelegentlich an die Flanken der schlafenden Metallschildkröten klopfend, würde man mir natürlich gar nichts anmerken, wenn ich tatsächlich besoffen wäre.
In den letzten zweieinhalb Jahren hatte General Reuland gelernt, alkoholische und medikamentöse Intoxikation nach außen hin möglichst überhaupt nicht mehr zu annoncieren. Wer in diesem Krieg keine Tabletten fraß und nicht des öfteren nach der Flasche griff, gehörte entweder zur falschen Seite – Zombies kannten keine Albträume und keine »Jitters«, wie Reulands britischer Freund Templeton das Angstflirren vor dem Angriff nannte – oder zu den W, Späths dekadentem Partisanenvolk, die sich mit perversen Rudelbumsveranstaltungen bei Laune hielten, soweit Reuland aus Gerüchten wußte (lieber hätte er so etwas nicht gewußt, es widerte ihn an).
»Obacht, Herr Gen’ral!« – der Mecklenburger mit dem Clipboard unterm angewinkelten Arm und den roten Handschuhen warnte ihn hastig verhaspelt. Ein Untero ffizi er sprang vom Trittbrett eines der Munitionswaggons vor Reuland auf den frostgepanzerten Boden, Reuland rammte ihn fast. Der Untero ffizi er
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