Für immer in Honig
Grinsen.
Unter ihr fuhr eine eisenschlotternde Bahn vorbei. Judith beneidete niemanden, der jetzt schon los mußte zur Arbeit und nicht erst, wie sie, in zwei Stunden. Hätte sie nichts essen müssen, oder wäre es möglich gewesen, sich bei einem einzigen Besuch der Versorgungsstelle für mehr als einen Tag einzudecken, wäre sie überhaupt noch nicht raus. Wie die Dinge lagen, versuchte sie immerhin, beim Gehen ein wenig weiterzudämmern – später hin gab keinen Sinn, dann wären die guten Sachen weg.
Sicher, meinte sie zu spüren, saß der Abwesende irgendwo und freute sich am schieren Rechthaben: »Wenn sie wirklich mal kommt, die Apokalypse, in dieser superhohlen Superprovinzstadt, dann wird sie ganz nuschelig, vermault, unhö flich , verschusselt, ohne Pfiff und Witz und Kraft, wie alles hier. Also andererseits vielleicht auch wirklich wie in diesen Büchern, die aufregend sein wollen, aber eben dumpf sind, nur dumpf. Also, eh ich so einen Weltuntergangstalmi schreibe, damit das gleich zu ist, das Thema, und am besten noch mit einer von diesen beliebten Botschaften wie: Der Mensch ist, auch und gerade im Berlin des einundzwanzigsten Jahrhunderts, im Grunde eine Bestie, ein homini lupus, reißender Pudel des Grauens – bevor ich mir einen solchen Quatsch rauswürge und damit dann zu einem dieser Agenten gehe, die das ›machen‹ müssen, damit sie selber nicht der Teufel holt, der sie ausgeschissen hat – bevor das passiert, werde ich Mia-Fan oder wähle die Grünen.«
»Sehr edel«, sagte Judith zu sich – und eine »Orchidee der deutschen Publizistik« haben ihn irgendwelche Fans dafür dann genannt, in einer Vortragsankündigung in Hannover, kurz vor der unhö flich sten aller Apokalypsen. Bewundert haben sie ihn, weil er sich seinen Kommunismus bewahrt hat und seine obskuren Bizarro-Themen aus der Welt des Comics und der Science-Fiction und des Horrors und der Hochliteratur der Höchstmoderne und den ganzen anderen Mottenfraß. Toll, den kriegen sie nicht klein, der bleibt auch während der Brötchentätigkeit für die konservative Tageszeitung ein einsamer Streiter für Seltsam, Doll und Radikal.
Hätten ihn mal kennen sollen, wie ich ihn kannte: gehetzt von dem Ehrgeiz, nur ein einziges Mal »was Gültiges« von sich zu geben, ständig auf der Jagd nach dem weißen Wal: ein Roman, so richtig, mit allem was auch immer, sich dabei aber zugleich verausgabend und verdünnend in diesen ganzen Bonmots, Artikelchen, »Ach Scheiße, wir Großepiker, uns gibt es nicht mehr, wir landen heute früher oder später alle in der Glosse«.
Die Verletzten der Zeitläufte können per Anhalter fahren, wenn es ihnen nicht paßt, Hauptsache, er sitzt an seinem ungreifbaren Buch der Bücher. Hat alles versucht, »ein Notizheft nach dem vorhergehenden« (Robert selber), Tonbandarchive, stoßweise Fotos, allerdings: bloß keine Digitalkamera anschaffen, obwohl es der Kontostand erlaubt, auch so ein absurder Aberglaube, nur kein technisches state-of-the-art beim Buchvorbereiten, nur nicht zuviel Komfort im Leben überhaupt, dem hat die Wohnung wahrscheinlich gefallen, der fände sie noch heute schön, mit Solanum in den Wänden, als hätte er sich auf diese Welt, die Judith jetzt umröchelte, vorbereitet, mit all den nie fertigen Zauberpapyri seiner Möchtegernkunst, Nostradamus, Hieronymus, überm Manuskript bei Kerzenschein.
Hast du genug Blei dabei?
Dann sage ich dir: Feuer frei
Die Versorgungsstelle drohte den Eintreffenden – darunter die Kollaborateurin, zahlreiche Mütter, einige mit Kindern, nur wenige Männer – mit ihrer finstern Front von der Farbe rostiger Nägel, mit ihrer geprügelten Gotik. Der Gottesstaatsverkünder, nach dem der Ort hieß, und seine Monica, zwei Statuen am Tor, sahen nicht besser aus als zu Zeiten, da dies Gebäude noch eine Kirche gewesen war: ewig winterlich, fern von Mitleid.
Daß es überhaupt Umschlagplätze wie diesen gab, wo auch die Währung noch galt, die vor der Katastrophe ganz Europa geeint hatte, daß Waren von außerhalb der Stadt ausgegeben wurden: Das, hatte Judiths Freundin Ileana gesagt, bevor sie ihr letztes Geld dafür verwendet hatte, sich von der Résistance aus der Stadt schmuggeln zu lassen, war der beste Beweis dafür, daß die NATO -West Berlin langfristig wirklich sich selbst überlassen würde, daß man sich, siehe Solanumhandel und Nebeneffekte desselben wie die Verteilungsstelle, auf fruchtbare bilaterale Handlungsbeziehungen einrichtete, die
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