Für immer in Honig
Alkoholnasen.
Manchmal ging sie bewußt nicht in die Kneipe, blieb zu Hause und schaute sich Michel-Gondry-Videos auf DVD an: Strom war genug da, den gab’s billiger als Heizen, DVD -Player und Fernseher funktionierten noch, auch wenn’s richtig kalt war. Verschwinden in die Björkwelt, den Elfenzauber der späten Spaßzeit.
Sie hatte auch jetzt Zugang dazu, nämlich Roberts Discman in der Tasche. Den hatte sie beim Wiedereinzug am Bett gefunden, daneben eine kleine Ellen-Allien-Remixplatte, die sie heute auch dabeihatte, mit der Baumnymphe drauf, verstrickt in ihr sinnierendes Schwebesprießen: Bein wird Ast, Finger wird Zweig, und in den knorrigen Auswüchsen der Musik wie der Figur auf dem Coverbild tummelten sich die Fabeltiere des gestreckten Abends einer ganz kleinen Kultur: der Storch mit dem Pelz, der Igel mit Mottenflügeln, das Eichhörnchen mit den kurzen Stelzbeinen eines seltsamen Vogels, der lachende Maulwurf mit der rosa Quietschnase.
Was hat die Kultur vor der Katastrophe mit der Katastrophe zu tun?
»Voll der Krieg im Wedding wieder«, sagte gerade ein Teenager zu einem andern, und Judith dachte: Richtig, die gehen in die Schule, denn unsere Schulen sind geöffnet.
»Krieg, eh, wat, das ist ein Aufstand, aber damit is bald Schluß. Da sind die W am Toben, Bernd war drüben, hat’s gesehen.«
»Hast du das neue Fahndungsplakat …«
»Die mit dem schmalen Gesicht, diese Amanda? Sieht total unheimlich aus.«
Judith erinnerte sich, apropos Krieg, an einen Artikel von Robert, zusammengesetzt aus zackigen Behauptungen, denen zufolge der Erste Weltkrieg irgendwie ein Schlüsselereignis der Moderne gewesen sein sollte, Wurzel von allem möglichen, Quelle aller Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts und Neige von sehr vielem, das ihm voranging. Er hatte das dann auch mündlich noch auseinandergesetzt, im Café, relaxt dozierend, so was ließ sie sich ja von Zeit zu Zeit gern gefallen: »Auch wieder so ein Text, der eigentlich um was Abwesendes kreist, das nicht drin vorkommt, nämlich um mein Lieblingszitat aus ›Tender is the Night‹, da gehen sie irgendwann nach 1919 das Schlachtfeld besichtigen, in Frankreich, und er denkt laut drüber nach, daß es für so ein Gemetzel, so eine große Stellungsschlacht, bei der es Millimeter um Millimeter vorwärts und rückwärts geht, Soldaten braucht, die daran glauben, daß das einen großen Sinn hat, was sie da tun, daß man, mit anderen Worten, zur Durchführung der letzten Tage der Menschheit beim damaligen, noch recht bescheidenen Massenvernichtungswaffenstand angewiesen ist auf ›Religion und Jahre des Wohlstands und der unbegrenzten Sicherheit, und die genau festgelegten Verhältnisse zwischen den Klassen‹, und daß der berühmte General Grant 1865 bei Petersburg eben nicht, wie man immer wieder hörte seinerzeit, antizipatorisch den Stellungswahnsinn des Ersten Weltkriegs erfunden hat, sondern nur eine bestimmte, von mir aus auch gelinde neuartige Sorte Massenschlächterei. Nein, läßt der Autor also seinen Doktor Diver sagen, ›diese Art von Schlacht hier wurde von Lewis Carroll erfunden und Jules Verne und von dem Verfasser von Undine und von kegelschiebenden Landgeistlichen und Matrosen in Marseille und von Mädchen, die in kleinen Hintergassen in Württemberg und Westfalen verführt wurden‹ – verstehst du, das Geile ist: Es sieht aus wie Idealismus, als ob er die Kultur für den Krieg verantwortlich macht, aber in Wirklichkeit ist es nur durch einen ganz kleinen Schritt, durch den Schritt, den Lenin das Nachhinken des Überbaus hinter der Basis nennt, von einer goldrichtigen materialistischen Einsicht entfernt. Es war eben, wie die Leute gelebt hatten, das hat sie fähig gemacht, menschliches Leben in so großem Ausmaß auszulöschen, verstehst du?«
Immer dieses Fetzchen, Präfix und Su ffi x und Insert für alles: Verstehst du.
Nein, sie verstand nicht. Seine Welt des aufgeblasenen Kopfes. Wozu?
Ooh, der Eintritt ist verboten
Ooh, für die lebenden Toten
»Und das muß man dann nur verlängern, in die Vergangenheit, das ist nicht bloß für 1914 aufschlußreich, verstehst du, sondern damit hat man auch … Nimm diese Stadt hier: Kleist in Berlin, ist hier am Zeitungsmachen gescheitert, hat sich erschossen, weil er nicht in den Krieg durfte, und dann wurde er Klassiker, und das war der ganze Unterschied.«
Unterschied zwischen was?
Was hatte er da nur immer geredet?
Judith war heiß, auf einmal. Erkältet, wie sie ohnehin
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