Für immer in Honig
Danke, genug.
Noch mehr Flocken fielen aus der Dunkelheit des Himmels auf die Finsternis der Erde. Darunter gähnte unsichtbar sehr tief der Abgrund aller Seelen, als Judith, ihre kargen Schätze schleppend, unbehelligt von der andrängenden zweiten Welle derer, die zu spät gekommen waren, mit vorsichtigen kleinen Schritten wieder nach Hause ging, um sich noch anderthalb Stunden auszuruhen, vor der ersten Schicht des ersten Jobs des ihr bevorstehenden viel zu langen Tages.
2 Fahrradfahren, wie sie’s früher gemacht und gemocht hatte, kam nicht in Frage, bei all den Sperren, Kontrollposten und verwüsteten Straßenzügen. Wenigstens waren die öffentlichen Verkehrsmittel – »Ein Geschenk der heimgekehrten Ahnen an ihre Kinder«, protzte eine Proklamation – für Angestellte des neuen Regimes – und nur für die – komplett gratis: Man bekam einen grünen Ausweis, einen monatlichen fälschungssicheren Sichtvermerk, fertig. Für alle andern galt das alte Kartensystem der Verkehrsbetriebe und die Aussicht, mit ein bißchen Pech vielleicht sogar gefressen zu werden.
Judith stieg an der Schönhauser Allee ein. Sofort saß sie eingeklemmt zwischen Lebenden, die toter wirkten als die Zombies, Gesichter von der Farbe und Freudigkeit trauernder Mehlwürmer, Hände auf Schenkeln wie tote Fische auf Steinen. Eberswalderstraße. Dann unter die Erde: Senefelderplatz. Rosa-Luxemburg-Platz … Judith stellte sich innerlich schon mal aufs Umsteigen am Alex ein und dachte, wie man Gebetszeilen denkt: dann Hackescher Markt, dann Friedrichstraße, ab da zu Fuß, erst zum Peigebäude, Akten für den zweiten Job bei der Verwaltung abholen, dann zum Dom, die Karten stempeln lassen, Heiz- und Müllberechtigung, Dienstbescheinigung, Freistellung von der Totengabe [Blutspenden, kleine Amputationen zum Verzehr für Zombies], da hatten sie ja ihre Großabfertigung eingerichtet, unter der Kuppel, die Bänke rausgeräumt, viele Schreibtische aufgestellt und Ein- und Ausgangspapierfächer auf diese Tische geschraubt, aus Holz statt Plastik: warme, erdige, friedhofslauschige neue Zeit. Als der Gedanke fertig war, fing er von neuem an: Hackescher Markt, Friedrichstraße, ab da zu Fuß …
Zwei Jobs waren gerade so genug, bei den »Bezügen«: Der eine in der Verwaltung – manchmal, wenn Not am Mann war, auch als eine Art Hilfs-Schließerin – des zentralen Kerkers für politische und sonstige suspekte Gefangene, der andere am Essenswagen (Fingersuppe, Zehengulasch, Ohrensandwich: Mahlzeit) auf der Baustelle für den Tempel.
Judith schloß die inzwischen schon früh am Morgen leicht brennenden Augen und sah sofort den Plan des Tempels vor sich, wärst du bloß blind, armes inneres Auge: Südlich der Schräge, da steht mein Wagen, mein Arbeitsplatz, am Aufgang für die Front, und über der werden sie dann ihre große Stele anbringen, geweiht der » TAT «. Das Wort, drei Buchstaben, soll laut öffentlich aushängendem Plan in einer Typo zu lesen sein, die wie Runen aussehen wollte, aber eigentlich doch sehr eng ans lateinische Alphabet angelehnt war.
Ich habe früher auch Schriften erfunden, dachte Judith. Dann fiel ihr Georg ein, Freund und Kollege von früher, der immer so stolz gewesen war, daß eine richtige Künstlerin, die man sogar auf der Documenta gezeigt hatte, sich dafür entschieden hatte, eine seiner Schriften zu verwenden.
Judith öffnete die Augen, aber überm Kopf des bleichen Mannes gegenüber gab es nichts zu sehen als nur Tunnelschwärze. Augen wieder zu, Grundriß des Tempels im Sinn.
» TAT «.
Halle der Ergebung, Saal des Ehrgeizes, vorwiegend so-und-so-farbiges Licht … Dieser Tempel war eine häßliche Sache, schon als große Ankündigung der neuen Herren, und würde ganz gewiß noch bedeutend häßlicher sein, wenn sie ihn jemals fertigstellen konnten.
Ooh, sie kommen aus der Hölle
Ooh, denn da gibt es viel zu viele
Augen wieder auf.
Der bleiche Mann hatte Kopfschuppen auf den Schultern. Judith fühlte sich an die Flocken im Dunkeln erinnert, heute morgen, und fragte sich, ob dieser Typ hier wohl ein häufiger Clubgeher war, wie sie selbst. Die unsauber rasierten Koteletten sagten jedenfalls: Jugendkultur, oder waren zumindest Schatten derselben.
So stand’s um die Träume, die Berlins neue Herren den Lebenden gelassen hatten, im zähnebleckenden Bewußtsein, daß die sich damit, wie schon vor der Katastrophe, leidlich selbst in Schach halten würden: Koteletten, Schuppen, schlechte Haut,
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