gebracht hatte.
5 Solange sie zurückdenken konnte, hatte Lena Dieringshofen keine besseren Arbeitsbedingungen erlebt: Die Hütte war groß genug, sah auch hübsch aus, ganz aus Stein, mit einem steilen Schilfdach, zwei Stockwerke, die Decke vielleicht ein bißchen niedrig, aber das Ganze nah genug am Meer für schöne Spaziergänge, umgeben von unverschämt grünen Wiesen, und geschmückt mit einem kleinen Vorgarten, in dem sie sich gelegentlich beschäftigen konnte, grabend, hackend, wenn das Hirn überhitzt war. Die Leute brachten ihr Lebensmittel per Hubschrauber, sie wohnte völlig allein, nur ab und zu kam Frau Rosenberg, ihr Eckermann, und blieb ein paar Tage im Gästezimmer.
Cordula wollte nicht mehr als gelegentliche Updates, am liebsten per Mail, mitunter auch telefonisch-mündlich. Die Frau war großzügiger, als Lena zu hoffen gewagt hatte; auch andere waren in Lenas Beisein in den Genuß dieser Generosität gekommen, Kreuzer etwa, den sie unbehelligt zurückließ, und Jennifer Brunner, die sie nach der Landung auf der Erde mit den Worten verabschiedet hatte: »Du bist frei, geh, wohin du willst – kannst dich ja ab und zu melden, Nummer hast du. Und ich hab deine«, das letzte mochte eine Drohung sein, aber doch eine sanfte.
Das Wetter am geheimen Ort, an den man Lena gebracht hatte, war mild, wenn auch regnerisch.
Lena hatte sich das Pfeiferauchen angewöhnt, vielleicht, weil es sie an ihren Vater erinnerte, und nahm trotz der langen Spaziergänge ein bißchen zu. Sie wußte nicht, in welchem Land sie sich aufhielt, im Umkreis der paar Kilometer, die sie sich erwandert hatte, gab es keine Spur menschlicher Behausung, keinen Rauch, keine Straße, und ihr war’s recht so. Sie machte gute Fortschritte; angemessen gravitätische mit der Arbeit an der Semantik, erstaunlich euphorisierende mit der anderen, der philosophischen an ihrer »Dieringshofenschen Vermutung«, wie sie das Ding nicht ganz uneitel nannte.
Und dann kam eines Tages diese blöde E-Mail von etwas namens
[email protected]:
»Guten Morgen, Frau Dieringshofen!
Sie kennen mich nicht, und hätten nichts davon, wenn Sie wüßten, daß ich Philip Klatt heiße. Wir haben nur wenig gemeinsam, darunter aber immerhin einen Lehrer namens Leviné, den Sie persönlich kannten, ich nur aus seinem Buch. Ein anderer meiner Lehrer namens Rosenzweig hat mich gebeten, Sie auf eine theologische Besonderheit in der Religionsgeschichte des Monotheismus aufmerksam zu machen: Gnostiker und andere Häretiker glaubten, die erste Ursache der Welt und der lebendige Gott seien nicht dasselbe. Da Materie etwas Schmutziges, Unvollkommenes, Sündhaftes sei, habe letzterer sich durch den Akt, die Tat, die Handlung der Schöpfung kompromittiert – der ›böse Gott‹, der Demiurg, sei ein Magnet, vor dem wir fliehen müßten, auf der Suche nach Vollkommenheit, der gute Gott, die wahre Quelle, etwas, zu dem wir zurückkehren müßten. Soweit ein simpler Dualismus: Schöpfergott / Gott Israels: böse, weltzugewandt, verschmutzt. Erste Ursache, Philosophengott, platonisches Ideal: gut, transzendent, heilig. Mein Lehrer bittet mich, Ihnen vor diesem Hintergrund folgende faszinierende Stelle aus Gerschom Scholems grundlegendem Werk ›Die jüdische Mystik‹ über die Sekte der Sabbatianer, die viel mit der Entstehung der neuzeitlichen europäischen Aufklärung zu tun hatte, zu übermitteln: ›Hatten die Gnostiker den Gott Israels religiös entwertet, so entwerteten die Sabbatianer den verborgenen Gott. Der Irrtum Israels im Exil besteht nach ihnen darin, daß die erste Ursache und die erste Wirkung, der Gott des Verstandes und der Gott der Offenbarung, zusammengeworfen wurden. (…) Der Gegenstand der Religion, das Ziel aller unserer Gebete, kann nur der Gott Israels und dessen Einheit oder Einigung mit seiner Schechina sein. Aus diesem Dualismus wurde bei manchen Sabbatianern bald eine mystische Trinität des verborgenen Gottes, des Gottes Israels und der Schechina. Und es dauerte auch nicht lange, bis die Theorie aufkam, die Vollendung der Erlösung sei daran gebunden, daß jeder dieser drei Aspekte der Trinität in einem besonderen Messias, also zu guter Letzt auch einem weiblichen, sichtbar würde.‹ Mein Lehrer bittet mich, Ihnen mit Nachdruck zu versichern, daß es keine Rolle spielt, daß Sie dergleichen mystische Schismata und Spekulationen für irrelevanten religiösen Unsinn halten. Relevant, so meint er, müßten sie Ihnen erscheinen, weil sie ziemlich