Für immer in Honig
nicht sieht. In Astrids Blut sprudelte was, und gluckerte, ich bin Landschaft, das sind Bäche. Göttergedanken rauschten in Bäumen, Abbildungen rasten zwischen allen Eindrücken hin und her, die Astrid je empfangen hatte, stetige Strecken, Hausdorffsche Schauder, gekräuselte Oberflächen, af fi ne Angst, große Geometrien, winzige Topologien nuklearer Räume.
Der Ort, an dem die Menschen leben, ist nicht bloß Natur.
Er ist Geschichte. Ihr könnt euer Blut nicht zum Grund eures Handelns erklären, ohne der Wahrheit Gewalt anzutun. Wir sind jünger als du und deine Leute, Astrid, uns gibt es noch gar nicht, aber ihr habt weniger recht als wir, euch auf die Vorfahren zu berufen. Überall auf den Fluren, von Niederdossenbach bis Wieslet, von Hasel bis Brombach haben wir Tote getroffen und nach Hause geschickt, heim in die Walddunkelheiten, wo sie hingehören. In unsere Vergangenheit und eure Zukunft haben wir auf den Wegen zwischen den hohen Nebeln unseren Weg gesucht und gefunden, die Schattenlaute eurer besseren Hoffnungen haben uns hergerufen. Wir sind die W, die Wer oder V, Weyr oder Vargr, und werden uns den Mutigsten unter euch verbinden. Wenn du noch mehr Zeit verschwenden willst, Astrid Riedler, einen Stolz zu pflegen, der nicht deiner ist, einer Familie gefallen zu wollen, die du nicht frei gewählt hast, wenn du weiter für die Toten arbeitest statt für die Lebenden, werden wir – werde ich dich mit ihnen nach Hause schicken. Wir verteidigen, was kommen muß. Stell dich nicht gegen uns.
Astrid stand der Mund offen. Ihre Arme hingen schlaff hinunter, die Knie waren Watte, das Blut klopfte ihr im Hals, in den Ohren und Schläfen. Philips Gesicht, in das sie schaute, war sauber und unverletzt.
Sie wollte etwas sagen zu diesem Gesicht, aber dann sah sie etwas daneben, dahinter, bevor sie antworten konnte, einen Schatten, etwas Blitzendes – und stand plötzlich wieder auf dem Platz, vor dem halbtoten Philip Klatt, dessen Kopf auf seine Brust gesunken war, vor Bernd und Schorsch auch, die ihn stützten, dabei schwitzten, zitterten und kreidebleich waren.
»Laßt ihn los. Laßt ihn fallen«, sagte der Dokter.
Er stand hinter Philip und hatte Gina Weil mitgebracht, eine weitere patente Frau aus seinem Stall.
Rainer Utzer zwinkerte und winkte der bestürzten Astrid mit einem Spazierstock, der Silberknauf glitzerte im Sonnenlicht. Astrid verstand jetzt, daß der Dokter mit diesem Ding Philip auf den Hinterkopf geschlagen hatte, so daß dieser endlich, nach all den Mißhandlungen, das Bewußtsein verloren hatte.
»Was …« Astrid schüttelte den Kopf, als glaubte sie, er wäre voller Mücken.
Bernd und Schorsch ließen Philip kollabieren und traten unverzüglich von ihm weg, als wäre er verseucht. »Was … genau … war hier grad los?« fragte Astrid. Sie sah den Dokter an dabei, denn der schien das zu wissen.
Rainer Utzer lächelte melancholisch: »Du hast mit einer Katze, die nicht weiß, daß sie eine Katze ist, Katz und Maus gespielt, weil du nicht wußtest, daß du eine Maus bist. Du hättest ihn gleich umhauen sollen, wenn du dich schon unbedingt mit ihm anlegen mußt. Jetzt weiß er womöglich schon fast, wer und was er ist. Nicht gut.«
Utzer winkte Bernd und Schorsch zu sich, dann wandte er sich wortlos ab.
Gina Weil starrte den am Boden liegenden Philip an, dann Astrid.
Die zuckte mit den Schultern. Gina zog eine angewiderte Grimasse, dann folgte auch sie dem Dokter.
Astrid sah sich Philip an. Sie überlegte kurz, ob sie ihn nicht vielleicht schnell umbringen sollte: Er war in meinem Kopf, da hat er nichts zu suchen. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.
Noch bevor sie eine Entscheidung fällen konnte, hörte sie Schorsch rufen: »Asterix, he! Hörsch die Bullen?« Astrid hörte das Martinshorn wirklich und beeilte sich, endlich ganz aus der Trance erwacht, zum Rest der schnellen Eingreiftruppe aufzuschließen, unverrichteter Dinge und sehr wütend.
DREIZEHNTES KAPITEL
Knappe Anfrage • Ausführliche Antwort
1
He Robert,
sag mal, was ist denn bloß bei Dir / Euch los in Berlin? Man hört da ja Sachen!
Das Projekt schreitet demnach entsetzlich gut voran, aber ich frage mich, ob Du es nicht übertreibst: Stimmt das, daß Du am Samstag mit dem Mädchen in der Volksbühne warst, auf irgendeinem hammerharten Konzert, und sie bei dieser Gelegenheit vor den Augen der halben versammelten Berliner Szene praktisch ausgezogen hast?
Stimmt das auch, daß sie jetzt kokst? Stimmt das,
Weitere Kostenlose Bücher