Fuer immer mein - Mechthild Kaysers erster Fall
Geschichte
über den Verlust seiner Familie hatte er schon so verinnerlicht, dass er manchmal ihre Gesichter vor sich sehen konnte. Merkwürdigerweise überkam ihm dann eine echte Trauer, und manchmal begann er sogar darüber zu weinen. Realität und Fiktion verschmolzen zunehmend in seinem Bewusstsein. Die Wahrnehmung seiner Umgebung wurde allmählich reduziert. Die Außenwelt war wie ein Spielfeld für ihn, das er nach eigenem Gutdünken betreten und verlassen konnte. Auf dem er seine Aufgabe durchführte. Gedenkstätten schaffen. Bis zu seiner Erlösung.
Er tastete zwischen den offenen Kragen seines blütenweißen Hemdes und berührte mit einem Finger das dort hängende, silberne Kreuz. Er glaubte, eine enge Beziehung zu Gott zu haben, der ihm den Weg zur Befreiung aufgezeigt hatte. Es war sein Wille. Benjamin würde eines Tages hervortreten und seine Seele selbst gerettet haben.
Er betrat die im vorderen Teil des Gasthofes gelegene Kneipe. Es war eine einfache, vornehmlich mit dunklem Holz eingerichtete Schankwirtschaft. So wie man sie vieler Orts auf dem Lande antraf. Das Licht war fahl, und es roch nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch. Benjamin trug eine beigebraune Hose und dazu ein marineblaues Jackett mit goldenen Knöpfen. Er sah sehr souverän aus. Als ihn der Wirt hinter dem Tresen erblickte, machte der nur eine Kopfbewegung in Richtung einer mit Bleiglas versehenen Doppeltür am Ende des Raums. Der Eingang zum Saal.
Als Benjamin am Wirt vorbeigeschritten war, verdrehte dieser vielsagend seine Augen in Richtung der an der Theke sitzenden Männer. Einer lachte. „Der kriegt noch eine ab heute!“ rief er und setzte sein Bier an.
Benjamin wartete einen Moment vor dem Saal, bis das laufende Musikstück geendet hatte. Dann öffnete er sehr vernehmlich die Tür. Er brauchte einen Auftritt. Fast der ganze Saal drehte sich um und blickte ihn an. Die meisten Tische waren besetzt. Überwiegend Frauen und ein paar Männer. Älter als er. Alle Männer saßen allein an ihrem Tisch, während die Frauen meistens gesellig zu mehreren beisammen waren. Er ließ den Blick über die ihn anstarrenden Gesichter gleiten, woraufhin sich alle schnell wieder umdrehten. Auf der Bühne saßen zwei ältere Herren in weißen Dinnerjacketts, beide mit Mikrophonen vor sich. Einer stand hinter einem Keyboard, während der andere ein Akkordeon auf den Knien hatte. Die Musik ging weiter. Eine Schnulze von Adamo.
Benjamin besah sich den Raum. Von einer wirklichen Modernisierung, wie auf der Werbung angekündigt, war nicht zu reden. Die Wände waren zwar in einem milden Orange frisch gestrichen und auch passende Vorhänge angeschafft worden, aber weder der Parkettboden strahlte in neuem Glanz, noch hatte die Bühne eine besondere Verschönerung erfahren – abgesehen von einer über ihr drapierten Stoffwurst in der Farbe der Vorhänge. Aber das interessierte ihn auch nicht so sehr. Er wartete auf ein Zeichen. Und endlich: Eine rundliche Dame, mehr sechzig als Mitte fünfzig, drehte sich noch einmal nach ihm um und lächelte ihn kurz an, bevor sie sich schnell wieder einer mit ihr am Tisch sitzenden zweiten Frau zuwandte. Neben den beiden Frauen war kein freier Tisch zu haben. Rechts von ihnen hockten drei laut schwatzende, dicke Weiber. Und links davon war der Tisch mit einem Herrn in betagtem Alter besetzt. Nun denn. Benjamin musste sich entscheiden. Er wollte in die Nähe der lächelnden Frau. Sie sollte ihm den Einstieg in die Kommunikation mit anderen ebnen. Sie würde ihn bestimmt ansprechen. Davon war er überzeugt. Und ein Mann, der in freundlichem Kontakt mit einer Frau gesehen wurde, wirkte auf alle anderen Frauen gleich viel sympathischer und unbedrohlich. Er schritt vornehm zu dem links gelegenen Tisch und sprach den älteren Herrn höflich an. „Pardon, mein Herr. Erlauben Sie, dass ich mich zu Ihnen setze?“
Der Mann sah auf. Er schien von Benjamins Ansinnen nicht begeistert zu sein. „Tut mir leid. Ich warte noch auf jemanden. Alles besetzt!“ antwortete er schroff.
Diese Ablehnung konnte Benjamin nicht ertragen. Eine unbeschreibliche Wut stieg in ihm auf. Wie konnte sich dieser Kerl seinen Wünschen widersetzen? Am liebsten hätte er ihm gleich vor allen Leuten das Genick gebrochen. Aber er musste sich beherrschen. Nicht schon wieder ausrasten. Seine Rettung kam vom Nebentisch.
„Dann setzen Sie sich doch zu uns!“ lud ihn eine der beiden Frauen ein. „Einen schönen Mann haben wir gern an unserem
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