Funkstille
natürlich sehr direkt. Aber einfach zu gehen ist nicht weniger gravierend, sondern eher schlimmer als die Wahrheit zu sagen. Allerdings lässt der Kontaktabbruch der verlassenen Person immerhin die Illusion: Ja, ich bin liebenswert, und ich verstehe nicht, warum man mich verlassen hat.«
Wie es scheint, gibt es keine eindeutige Antwort auf die Frage »Reden oder schweigen?«. Manchmal sind Worte zu viel, manchmal zu wenig, und nicht immer sind es die richtigen. Herrscht dann ein Mangel an Sprache oder an Schweigen? Vielleicht kommt beides letztlich auf dasselbe heraus. Und wahrscheinlich ist es für jeden von uns eine Lebensaufgabe herauszufinden, was für einen selbst das Beste ist, ohne die Gefühle des anderen allzu sehr zu verletzen. Manchmal aber will man verletzen, um den anderen zu provozieren. Der Wissenschaftler, der unter dem Schweigen seiner Schwester leidet, erzählt mir, dass er ihr eines Tages schrieb: »Ich hasse dich.« Danach brach der Kontakt endgültig ab. Was hätte seine Schwester auch antworten sollen? Dazu gibt es nichts zu sagen, entgegne ich dem trotz allem verblüfft dreinschauenden Chemiker. Er war wütend, wollte sie provozieren, ja aufrütteln und erreichte damit nur das Gegenteil. Die Schwester entzog sich ihm nunmehr völlig, wurde umso hartnäckiger in ihrem Schweigen. Worte können aber auch heilen. Basiert darauf nicht auch die Psychotherapie? Nicht nur! Bei einem unserer Treffen kommt das Therapeutenehepaar Wedler auf eine Idee.
Hans Wedler: »Man muss das Schweigen erleben, dann merkt man, was das für eine Kommunikation ist. Man kann nicht völlig aneinander vorbeigehen. Wie im Leben. Ich bin immer allein, aber es geht nicht völlig ohne Kommunikation. Auch wenn du dein Bündel packst und losziehst, hast du Kommunikation.«
»Nehmen wir an, ich bin auf einem einsamen Berg!«, provoziert Marianne Wedler ihren Mann. »Auch da kommt zufällig mal einer vorbei«, kontert er. »Und die Einsiedler?«, fragt sie zurück. »Aber da ist auch irgendeine Beziehung«, beharrt Hans Wedler. Kommunikation ist offenbar immer vorhanden, rekapituliere ich, und es kommt nur sehr selten vor, dass der Sender und der Empfänger sich zu 100 Prozent verfehlen. Wedler bestätigt und will nun endlich seine Idee weiter ausführen: »Auch in einer Therapiegruppe gibt es Schweigen. Aber die Gedanken haben immer Bezug zu der Gruppe. Man spürt im Verlauf des Schweigens, wie es sich immer mehr konzentriert, weil das Schweigen viele auch beunruhigt. Die Gruppe ist autonom. Irgendwann ist es dann unangenehm zu schweigen, deshalb wird schließlich doch etwas gesagt. Die Frage ist jetzt aber – und das könnte wirklich spannend sein –, was würde passieren, wenn einer aufsteht und rausgeht? Ich habe das noch nicht erlebt. Ich würde als Therapeut in diesem Moment natürlich nichts machen. Aber die Gruppe würde sich nur noch mit dem, der weggegangen ist, beschäftigen. Sie würde sich fragen, warum geht der raus? Der Prozess würde unterbrochen, niemand würde mehr über die eigenen Probleme reden, und dann müsste man das thematisieren, um es zur Sprache zu bringen.«
Es kann also sein, frage ich, dass dieses Weggehen sogar eine Intensivierung der Beziehung auslöst? »Unbedingt«, schallt es mir wie aus einem Mund entgegen. »Man sollte«, beendet Hans Wedler unseren Abstecher in die Gruppentherapie, »das einmal vorschlagen, als Therapie für Verlassene. Die sollten eine Gruppensitzung mitmachen und dann aufstehen und gehen. Dann sollen sie mal schauen, wie sie sich fühlen.« Solch ein Perspektivwechsel wäre sicher hilfreich, um nicht immer in derselben Rolle steckenzubleiben, um beide Seiten zu verstehen, überlege ich. Vielleicht haben die beiden Therapeuten soeben eine neue Therapieform entwickelt.
»Das Schweigen bedeutet, dass etwas nicht stimmt«
Auf meine Frage, ob der Kontaktabbruch auch eine heilsame Auszeit sein kann, habe ich bislang keine eindeutige Antwort gefunden. Gemeinsam mit dem Ehepaar Wedler denke ich weiter darüber nach. Wir umkreisen einen der grundlegenden Widersprüche des menschlichen Lebens: Jeder lebt für sich allein, und doch braucht jeder die Bindung an andere Menschen. Oder, wie Hans Wedler es ausdrückt: »Ich finde es ungeheuer wichtig, sich immer wieder klar zu machen, dass ich dieses Leben habe und dass ich aus meinem Leben etwas machen muss. Jeder Mensch ist einsam, und zwar sein Leben lang. Und diese Vorstellung, dass durch eine Beziehung diese Einsamkeit
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