Funkstille
aufgehoben wird, ist eine Illusion, in der wir uns baden.«
Auch in langjährigen und intakten Beziehungen gibt es Situationen der Sprachlosigkeit und des gegenseitigen Unverständnisses. Man kennt sich selbst und einander nie ganz. Befindet sich einer von beiden in einem inneren Konflikt, braucht er vielleicht Stille und Abstand. Das Schweigen besagt dann soviel wie: Ich bin auf der Suche, muss nachdenken, und dazu brauche ich Ruhe. Stille. Der andere wird dabei ausgeblendet, muss ausgeblendet werden, sonst kann der sich neu Sortierende nicht ganz bei sich sein.
Das Bedürfnis nach Schweigen, Distanz, Bei-sich-Sein einerseits und Nähe, Gebundensein andererseits sind innerhalb von Beziehungen nicht immer synchron. Daher die Zweischneidigkeit des Schweigens: Es schafft Raum für neue Gedanken und Gefühle, die bereichern können. Es schafft aber auch ein Vakuum, in dem sich Missverständnisse breitmachen können. Was zunächst nur eine Vermutung über den anderen war, wird dann möglicherweise irgendwann für wahr und existent gehalten. »Wir interpretieren die Welt falsch und behaupten dann, sie täusche uns«, sagte der Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore. Man fühlt also, was man denkt.
Ich muss an eine Geschichte denken – die Abwandlung der bekannten Watzlawick-Anekdote vom Mann, der sich beim Nachbarn einen Hammer ausleihen will. Der Humortherapeut Harold Greenberg erzählt sie ungefähr so: »Ein Mann fährt an einem sehr regnerischen Tag in seinem Auto. 15 Kilometer vor dem nächsten Ort hat er eine Panne. Er steigt aus seinem Wagen und bemerkt, dass er einen platten Reifen hat. Er beschließt, den Reifen zu wechseln. Er durchsucht das ganze Auto, findet aber keinen Wagenheber. Also läuft der Mann los. Der Regen wird immer stärker. Bald ist er nass bis auf die Knochen. Er denkt bei sich: ›Ich gehe jetzt zur nächsten Tankstelle und frage nach einem Wagenheber. Ich erkläre dort, dass ich eine Panne habe.‹ Plötzlich beschleicht ihn ein unangenehmer Gedanke: ›Mir einen Wagenheber leihen? … Vielleicht wollen die mir nicht so ohne Weiteres einen borgen? Dann müsste ich sicher ein Pfand hinterlegen. Vielleicht 30 Euro? Wer weiß das schon? Woher soll ich auch wissen, welche Pfandsumme die festgelegt haben? Vielleicht wollen die sogar 50 oder 100 Euro von mir!‹ Als er weiterläuft, kommt ihm ein neuer Gedanke: ›Vielleicht leihen die mir den Wagenheber nicht mal für 100 Euro, weil die genau wissen, dass ich hier draußen aufgeschmissen bin. Vielleicht werden die von mir verlangen, dass ich den Wagenheber kaufe. Wieviel wird der wohl kosten?! Oh Gott! …‹ Und so geht es noch eine ganze Weile weiter. Schließlich kommt der Mann an der Tankstelle an. Er öffnet die Tür, betritt triefnass wie er ist den Verkaufsraum, und hört den Tankwart fragen: ›Ja bitte?‹ Worauf der Mann ausruft: ›Sie können ihren blöden Wagenheber behalten!‹«
Michael, der Sohn von Lisa-Maria W., scheint seine subjektive Wahrnehmung nicht zu hinterfragen. Was er fühlt, ist für ihn die objektive Wahrheit. Dass seine Sichtweise, die Kindheit und seine Mutter betreffend, nicht der Realität entsprechen könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. »Wenn er mich nicht missverstanden hat, sondern wenn er das so gefühlt hat, dann ist das doch für ihn wahrgenommen, und dann kann er mir auch nicht verzeihen. Das ist es ja, er müsste doch irgendwo mir verzeihen, und das kann er nicht, weil er das anders wahrgenommen hat«, so Lisa-Maria W. im TV -Interview. Ich frage nach: »Weil er dann seine eigene Wahrnehmung überdenken müsste?« »Ja«, antwortet sie, »das müsste so sein, und ich kann hier noch einmal sagen, ich liebe dich, Michael, mit allem was dazu gehört, als Mutter, mit allem. Wenn er das aber doch nicht empfindet, kommt das nie an.«
Empfindungen sind subjektiv. Was sollte die Mutter Michaels Gefühlen entgegensetzen? Auch die Geschwister finden bei ihrem Bruder kein offenes Ohr. Michaels Schweigen bringt die gesamte Familie aus der Balance. Es fühle sich nicht gesund an, findet sein jüngerer Bruder Christian, »es bedeutet, dass irgendetwas in unserer Familie nicht stimmt, dass wir gestört sind, und das will ich nicht. Es würde der Familie wirklich guttun, wenn es wieder einen Kontakt zwischen den beiden gäbe. Michael sollte über seinen Schatten springen und sagen, der Familie wegen würde ich es tun. Dann würde er vielleicht auch sehen, dass es auch ihm gut tut. Aber den Schlüssel dazu
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