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FutureMatic

FutureMatic

Titel: FutureMatic Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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    tasche, was wie die Kappe eines altmodischen Lippenstifts aussah, und begann zu spielen, wobei er das goldene Metallröhrchen als Slide benutzte. Die Töne, die er der Gitarre entlockte, trafen Rydell so sicher in die Magengrube wie Creedmore jenen unvor-bereiteten Wachmann vorhin: Sie klangen, wie sich Kreide in einem Billardzimmer an den Fingern anfühlt, und erinnerten Rydell an Tricks mit Glasstäben und Katzenfellen. Irgendwo im Innern dieses fetten, verschlungenen, relaxten Sounds bildete sich etwas heraus, was eine grandiose, hässliche Spannung besaß.
    In der zu dieser Tageszeit zwar noch nicht vollen, aber auch keineswegs leeren Bar war es von den kratzigen, verschlungenen, ausdrucksvollen Klängen von Shoats’ Gitarre total still geworden, und dann begann Creedmore zu singen, etwas Hohes und Tre-molierendes, Klagendes.
    Creedmore sang von einem Zug, der einen Bahnhof verließ, und von den zwei Lichtern an seinem Heck: Das blaue Licht war sein Baby.
    Und das rote sein Verstand.
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ANZUG
    ach seinem Verzicht auf Schlaf ist Laney, der weder raucht Nnoch
    trinkt, dazu übergegangen, sich den Inhalt sehr kleiner brauner Glasfläschchen einzuverleiben, ein spezielles Patent-rezept gegen Kater, eine archaische, aber nach wie vor beliebte japanische Medizin aus Alkohol, Koffein, Aspirin und flüssigem Nikotin. Er weiß irgendwie (irgendwie weiß er jetzt alles, was er wissen muss), dass er dieses Mittel in Kombination mit regelmä-
    ßigen Dosen eines hypnotischen blauen Hustensirups braucht, um durchhalten zu können.
    Mit klopfendem Herzen, die Augen weit geöffnet, um die Datenflut hereinzulassen, die Hände kalt und fern, stürmt er entschlossen weiter.
    Er verlässt den Karton nicht mehr, verlässt sich statt dessen auf Yamasaki (der ihm Medizin bringt, die er nicht nehmen will) und einen Nachbarn in der Pappkartonstadt, einen äußerst gepflegten Verrückten, den er für einen Bekannten des alten Mannes hält, des Modellbauers, von dem Laney diesen Raum gemietet oder auf andere Weise bekommen hat.
    Laney erinnert sich nicht mehr an die Ankunft dieses Verrückten, der für ihn der »Anzug« ist, aber das gehört nicht zu den Dingen, die er wissen muss.
    Der »Anzug« ist offensichtlich ein ehemaliger Salaryman. Der »Anzug« trägt einen Anzug, und zwar immer denselben. Dieser Anzug ist schwarz und war früher einmal ein wirklich sehr guter Anzug, und man erkennt an seinem Zustand, dass der »Anzug«, in welchem Karton er auch hausen mag, ein Dampfbügeleisen, 136
    eine Kleiderrolle sowie zweifellos auch Nähzeug besitzt und damit umgehen kann. Es ist zum Beispiel unvorstellbar, dass die Knöpfe dieses Anzugs nicht ganz fest und absolut symmetrisch angenäht wären oder dass das weiße Hemd des »Anzugs«, das im Halogenlicht im Karton des Meistermodellbauers erstrahlt, nicht perfekt weiß wäre.
    Ebenso klar ist jedoch, dass der »Anzug« schon bessere Tage gesehen hat, was sicherlich für jeden Bewohner dieses Ortes gilt.
    Es ist zum Beispiel augenfällig, dass das Hemd des »Anzugs«
    weiß ist, weil er es, wie Laney vermutet (obgleich er das nicht zu wissen braucht), täglich mit einem weißen Erzeugnis bemalt, das für die farbliche Auffrischung von Turnschuhen gedacht ist. Sein schweres schwarzes Brillengestell wird von beunruhigend präzisen Ligaturen aus schwarzem Isolierband zusammengehalten, das er mit einem X-Acto-Messer des Alten und einer stählernen Miniatur-Reißschiene zu schmalen Streifen zurechtgeschnitten und dann mit lapidarer Geschicklichkeit appliziert hat.
    Der »Anzug« ist so ordentlich und so akkurat, wie es ein Mensch nur sein kann. Aber es ist sehr lange her, Monate, vielleicht Jahre, dass er gebadet hat. Jeder Zentimeter sichtbarer Haut ist natürlich geschrubbt und makellos rein, aber wenn der »Anzug« sich bewegt, sondert er einen ganz unbeschreiblichen Geruch ab, eine Art hohen, dünnen Gestank von Wahnsinn und Ver-zweiflung. Er trägt stets drei identische, in Plastik eingeschweißte Exemplare eines Buches bei sich. Laney, der kein Japanisch lesen kann, hat gesehen, dass alle drei Exemplare dasselbe lächelnde Foto des »Anzugs« ziert, zweifellos in besseren Tagen und aus irgendeinem Grund mit einem Hockeyschläger in der Hand. Laney weiß (ohne zu wissen, woher), dass dies eine jener selbstgefälligen Autobiografien ist, die gewisse Manager sich zwecks Eigen-werbung von Ghostwritern schreiben lassen. Doch die weitere Geschichte des »Anzugs« ist Laney –

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