Gabe des Blutes
schwankte ein wenig nach vorn auf seine Hand.
»Sie muss alles nacherlebt haben, was Chayne empfunden hat, so als wäre sie Chayne selbst«, bemerkte Rye. »Es muss ein brutaler Angriff auf ihre Psyche gewesen sein. Sie ist überanstrengt.«
»Das sehe ich selbst«, fauchte Reule. Er war ohnehin schon aufgewühlt genug. Er hätte ahnen müssen, dass so etwas passieren konnte. Die Wucht ihrer Trauer, die Art, wie sie Dinge so leicht zu erfassen schien, und die Kontrolle, die sie aufbot, um ihre Emotionen zu schützen, das alles waren reaktive Fähigkeiten, die ein ’pathisches Wesen entwickelte.
Sein Aufruhr führte dazu, dass Mystique zusammenzuckte und ihre Hände loszureißen versuchte, doch er hielt sie fest. Daraufhin beugte sie sich vor, bis sie seine Wange mit ihrer berührte und sich zu seiner Überraschung an ihn schmiegte, soweit es ihre unbequeme Haltung zuließ. Er reagierte instinktiv darauf, indem er sie fester an sich zog.
»Was«, flüsterte sie an seinem Ohr, »was ist passiert?«
»Es ist okay, Liebling. Du bist gleich wieder okay. Du brauchst nur eine Weile, um dich zu erholen.«
»Nein!« Sie stöhnte das Wort dicht an seiner Haut, und das Flattern ihrer Wimpern streichelte seine Wange. »Was ist mit ihm passiert?«
Reule lehnte sich ein wenig zurück, um sie anzuschauen, während er langsam begriff. Ihm war unbehaglich, als er überlegte, was er ihr sagen sollte. Sie hatte selbst genug Folter erlitten; musste sie unbedingt noch die eines anderen nachempfinden?
»Bitte«, flehte sie leise, während sie den Kopf senkte, bis er den sanften Druck ihrer weichen Lippen auf seiner Handfläche spürte, »bitte versuch nicht, mich zu schützen. Ich muss es wissen.«
Einen Augenblick lang pochte Reules Puls überlaut in seinen Ohren. Wieder war es, als hätte sie seine Gedanken gelesen, und er musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie tatsächlich dazu fähig war. Er war nicht allwissend. Es war naheliegend, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gab, der größere Fähigkeiten hatte als er. War es vielleicht das Wesen, das gerade vor ihm saß?
Doch das spielte in diesem Moment keine große Rolle. Er konnte nicht plötzlich Zurückhaltung ihr gegenüber walten lassen. Nicht, wenn sie eine so klare Vermittlerin der Wünsche eines alten und geschätzten Freundes war, und nicht, wenn er ihr tief in die Augen blickte, während ihr Kuss auf seiner Hand noch immer brannte.
»Schakale haben ihn gefoltert«, sagte er rasch. »Sein Name ist Chayne, und sie haben sich einen Spaß daraus gemacht, ihm Schmerzen zuzufügen.«
»Sie haben sich von ihm genährt«, hauchte sie. »Sie haben sich von seiner Furcht genährt, sie könnten von dir erfahren. Er hat sich Sorgen gemacht, dass du genauso verletzlich sein könntest, wie er es war, weil …« Sie zögerte, als sie in sich nach dem Teil suchte, den Chayne in ihr eingeprägt hatte. »Du hast darauf bestanden, ohne deinen Schattenmann zu jagen.«
»Zum Teufel«, fluchte Darcio leise, wobei er genau wusste, wovon sie sprach, auch wenn sie es selbst nicht ganz verstand.
»Sie sind in seinen Körper eingedrungen«, flüsterte sie, »vier Mal. Haben ihn zerfetzt und zerschmettert und …« Sie rang nach Atem, als die Erinnerung sie heimsuchte, und Tränen liefen ihr über das Gesicht.
»Es reicht, Kébé , bitte … Wir wissen Bescheid.«
»Nein! Ich war … Ich war da. Ich … habe es gespürt. Ich habe alles gespürt.« Reule merkte, wie sie unter dem Griff seiner Hand heftig zu zittern begann.
»Ich dachte, Telemetriker konnten nur das momentane Befinden einer Person wahrnehmen?«, sagte Delano, der sehr erregt klang, während er hinter Reule auf und ab zu gehen begann. »Sie redet, als wäre sie dabei gewesen, als es passiert ist!«
»Das war sie auch.«
Reules Kopf fuhr zu Darcio herum, und seine haselnussbraunen Augen verengten sich, als er seinen Schattenmann anblickte. »Was?«
»Sie war dort. Direkt im Stockwerk darüber. Vielleicht meint sie gar nicht eine telemetrische Erfahrung, Reule. Vielleicht erinnert sie sich an das Haus. Sie war dort. Im Stockwerk darüber. Während es passiert ist.«
»Ja«, keuchte sie. »Ich war da. Ich habe es gespürt. Ich habe die Brutalität gespürt. Wie er versucht hat, sich herauszuwinden, und wie er gefleht hat. Er hat nicht aufgegeben. Keine Sekunde.«
»Sie war in Kontakt mit dem Haus selbst. Ihre Hände auf dem Fußboden. Sie musste nicht im Raum sein, um mitzubekommen, was Chayne fühlte und
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