Gaelen Foley - Amantea - 01
möglich gewesen war, den Wachen, die Domenico auf ihn gehetzt hatte, zu entkommen. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, wie er über die Mauer geklettert war. Doch er wirkte nicht wie ein Mann, den etwas so Nebensächliches wie eine zehn Fuß hohe Mauer aufhalten konnte.
Die einzige Frage, die noch blieb, war, warum er sich die Mühe machte, sie zu retten.
„Du bist derjenige, der ihr gefolgt ist“, knurrte Dome- nico. „Du hast nie mit ihr das Bett geteilt.“
„Nun ja“, gab der Fremde zu. „Noch nicht.“
Sie stieß einen empörten Laut aus. Dieser arrogante Heide.
Allegra verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Baumstamm, wobei sie sich auf einmal aus- gesprochen zufrieden fühlte. Er war ihr also tatsächlich gefolgt. Sie hatte Recht gehabt. Aber warum?
„Allegra, geh ins Haus. Dieser Unhold gehört offenbar zu den Rebellen.“
„Sie haben die Türen verschlossen, mein Herr“, erwi- derte sie. „Erinnern Sie sich noch? Außerdem glaube ich nicht, dass es sich so verhält.“ Sie musterte ihn. „Auf der Piazza kannte ihn niemand.“
„Signorina Monteverdi, bitte bleiben Sie hier“, bat sie der Fremde. „Als ich Sie sah, wollte ich mich Ihnen so vorstellen, wie es sich gehört, aber ...“
„Ha“, erwiderte sie.
„Aber dieser Herr kam dazwischen, bevor ich meinen Entschluss in die Tat umsetzen konnte. Bestimmt sind Sie froh, dass ich doch noch darauf bestand.“ Er lachte sie so charmant an, dass ihr der Atem wegblieb.
„Allegra“, sagte Domenico scharf. „Geh und ruf die Wachen, um diesen Schurken festzunehmen. Oder was von ihm übrig geblieben ist, wenn ich einmal mit ihm fertig bin.“
„Für welches Verbrechen, Domenico?“ fragte sie.
„Für unbefugtes Eindringen.“
„Das scheint nicht gerecht zu sein.“
„Widersprich mir nicht“, fuhr Domenico sie an, der den Fremden keinen Moment aus den Augen ließ. Sein Dolch glitzerte im Mondlicht, als die zwei Männer sich in Kampfhaltung zu umkreisen begannen.
„Er ist nicht unbefugt hier eingetreten“, erklärte Alle- gra. „Das ist mein Haus. Ich werde behaupten, dass ich ihn eingeladen habe. Machen Sie sich keine Sorgen, Do- menico. Wenn er Sie töten wollte, wären Sie jetzt bereits tot.“
Der Fremde lachte wieder fröhlich. „Höre ich da ein Kompliment für einen Mann der unteren Klasse? Nun werde ich noch entschlossener für Sie kämpfen, meine Dame. Entschuldige dich, Grobian, oder ich werde mich gezwungen sehen, rau mit dir umzugehen“, verlangte er von Clemente mit donnernder Stimme. Domenico achtete allerdings nicht darauf.
Allegra war vom Charme des Mannes angetan. Dome- nicos Augen jedoch glitzerten hasserfüllt.
„Verschwinden Sie“, sagte sie zu dem Fremden. „Sie werden sonst gehängt.“
„Dafür wird gar keine Zeit bleiben“, erklärte Domenico und stürzte sich auf ihn.
Allegra schaute verängstigt zu. Sie hoffte verzweifelt, dass kein Blut fließen würde. Wenn sie die Wachen rief, um die beiden auseinander zu reißen, würde ihr fehlgeleiteter Retter für seine ehrenvolle Tat nur bestraft werden. Zu- dem hatte sie das Gefühl, dass Domenico eine Abreibung verdiente.
Wer um Himmels willen ist er nur?
Erschöpft führte sie die Hand zur Stirn und sah zu, wie die zwei Männer sich gegenseitig Schnitte beibrachten, sich verletzten und aneinander prallten – das alles, wie es schien, für Allegras Ehre.
Tante Isabelle wäre begeistert gewesen.
Aber Allegra vermochte nur daran zu denken, dass es
wieder ein Beweis dafür war, welch eine Verschwendung ihre Friedenspläne doch waren. Dieser Anblick ließ sie bei- nahe philosophisch über die Gewalttätigkeit des Menschen nachdenken.
Da sie jedoch von ihrer Rolle als Gastgeberin des Bal- les und vom Ausrichten des Volksfestes müde war, wäre sie am liebsten in ihr Zimmer gegangen und hätte sich schlafen gelegt, während die zwei Narren einander besin- nungslos prügelten. Trotzdem blieb sie und zuckte jedes Mal zusammen, wenn die beiden sich tatsächlich trafen.
Die Soldaten würden früher oder später die Kampfge- räusche hören. Allegra musste bleiben und erklären, dass der Fremde ihr nur hatte helfen wollen, weil er die Aus- einandersetzung mit Domenico mitgehört hatte. Sie wollte nicht, dass sein hinreißender Kopf abgetrennt wurde.
Einen Moment betrachtete sie den Fremden im dämm- rigen, orangefarbenen Schein der Gartenlaternen. Er sah wirklich auffallend gut aus. Seine wohlgeformte hohe Stirn unter dem
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