Gaelen Foley - Knight 06
trat. Becky erkannte einen Mann. Bar- fuß, in zerrissener Hose stand er da, ein weißes Hemd voller Fle- cken, aber mit gerüschten Ärmeln, hing an ihm herab.
Das Hemd eines Gentlemans.
„Lieber Gott.“ Sie presste eine Hand auf den Mund und starr- te ihn mit großen Augen an.
Sein Haar war dunkel, seine Gestalt hochgewachsen, doch er war vollkommen unterernährt. Er hatte ein hageres Gesicht und unter den hohen Wangenknochen hohle Schatten, darunter wuchs ein rauer Bart.
Voller Entsetzen richtete er den Blick aus seinen dunklen Au-
gen zum Fenster, dann sah er wieder sie an und flehte: „Aidez- moi, s’il vous plait, mademoiselle.“
Sie wich zurück zur Tür. „Sie sind Franzose.“
„Non, non! Je suis Russe. Je suis Russe.“
„Was? Roose? Ihr Name ist Roose?“ Sie hörte, dass ihre Stim- me vor Angst schrill klang, aber sie konnte nichts dagegen tun.
Er bemühte sich, es ihr zu erklären. „Non! Rooseee. Je suis Roosee.“
„Roosee?“, wiederholte sie verwirrt. „Ach so. Sie sind Russe!“
„Oui! Je suis Russe!“ Er sprach weiter.
Becky schüttelte heftig den Kopf, denn sie verstand ihn nicht. „Was tun Sie in meinem Torhaus?“
Er sprach weiter auf Französisch, genug, um sie durch sein Verhalten davon zu überzeugen, dass er kein einfacher Mann war, allerdings konnte sie nicht mehr in Erfahrung bringen. Beim Anblick ihrer ausdruckslosen Miene verstummte er schließlich, dann sank er mit verzweifeltem Blick auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Er weinte beinahe, und es brauchte keine Worte mehr, um ihr zu erklären, dass er sie um Hilfe an- flehte. Erst da erkannte sie, dass seine Hände hinter ihm zusam- mengekettet waren.
Endlich begriff sie – und war entsetzt. Dieses Geheimnis al- so verbarg Michail. Deshalb hatte er sich so lange in Yorkshire aufgehalten. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr Cousin die- sen Mann im Torhaus gefesselt hielt, und es war ihr auch egal. Vielleicht war der Gefangene gefährlich, aber hier bot sich eine Chance, die sie unbedingt nutzen musste.
Rasch durchsuchte sie den Raum und fand die Schlüssel für seine Handketten neben der Tür im vorderen Bereich des Hau- ses. Dann ging sie zurück in seine Zelle und näherte sich ihm vorsichtig.
Becky zeigte ihm den Schlüssel und warf ihm einen warnen- den Blick zu. Voller Verzweiflung sah er sie an, gab ihr zu ver- stehen, dass er ihr nichts tun würde. Dann kehrte er ihr den Rücken zu und streckte ihr seine Hände entgegen. Von ihm ging ein schrecklicher Geruch aus, und seine Handgelenke waren in einem beklagenswerten Zustand.
Mit zitternden Fingern löste sie die Fesseln.
Kaum war er frei, griff er zur Kerze und blies sie sofort aus. Becky wich vor ihm zurück. Er packte ihren Ellenbogen und
drehte sie zur Tür mit einem Befehl, den sie nicht verstand.
„Was tun Sie da?“, fragte sie.
„Psst“, flüsterte er, und sie verstummte sofort. Aus der Ferne waren Männerstimmen zu hören. Es kommt jemand.
Die Kosaken!
Zweifellos wollten sie nach dem Gefangenen sehen. Becky warf einen Blick zum Fenster und erbleichte. Doch das kantige Gesicht des Russen wirkte wild entschlossen. Sie verstand sei- ne Worte nicht, dennoch erriet sie, was er sagen wollte: „Wohin gehen wir?“
Sie mussten hier raus.
Becky fasste ihn am Arm und zog ihn mit sich, führte den Mann aus seinem Gefängnis, hinaus in die Wälder. Die Stimmen der Kosaken wurden lauter. Mit pochendem Herzen sah sie sich um. Wenn sie es bis nach Talbot Old Hall schafften, könnte sie ihn in den Geheimgängen verstecken. Aber als sie ihn dorthin ziehen wollte, wehrte er sich.
Er zeigte in Richtung der Kosaken, die noch nicht zu sehen waren, dann schüttelte er den Kopf und wich vor ihr zurück.
„Na schön“, murmelte sie. Sie konnten eine Flucht wagen. Einer der Nachbarn unten im Dorf würde helfen müssen. Big Samuel, der Schmied, oder Mr. Haskell, der Apotheker. Er war Soldat gewesen, er würde sich vor Michail nicht fürchten.
„Kommen Sie“, flüsterte sie und führte den Russen, der in ihr Mitleid erregte, tiefer in die Wälder. Barfuß und geschwächt, wie er war, stolperte er auf dem unebenen Boden. In starker, gesunder Verfassung wäre er ein beeindruckender Mann ge- wesen.
Während sie in den Wäldern verschwanden, mussten die Kosaken das Torhaus leer vorgefunden haben, denn sie riefen Alarm, und laute Männerstimmen hallten von jenem Ort, den sie gerade verlassen hatten.
Becky und der Gefangene liefen schneller, dabei
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