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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gebissen worden wäre. Dann, sechs Monate später, geht die Jagd wieder von vorn los. Und wie aus heiterem Himmel is’ dann wieder Schluss, und er lässt ihn in Ruhe, als ob er der Bürgermeister vom Fluss wär’. Durban is’ nich’ gegen ihn angekommen, das können Sie mir glauben. Sie werden das gleiche Ende finden wie er und ins Gras beißen. Ich geb Ihnen zehn Shilling für Ihre Stiefel, wenn Sie sie nich’ vorher kaputt machen.«
    »Jemand beschützt ihn also«, stellte Monk in ätzendem Ton fest. »Aber den werde ich ebenfalls kriegen. Und meine Stiefel werde ich behalten.«
    Smiler stieß ein scharfes Bellen aus, das bei ihm als Lachen galt. »Sie wissen ja noch nich’ mal, wer es is’! Und bevor Sie mir mit Drohungen kommen wie Mr. Durban: Ich achte verdammt gut darauf, von nix zu wissen. Und das Angebot mit den Stiefeln steht immer noch.«
    »Wer ist Mary Webber?«
    »Himmel! Nich’ auch noch Sie!« Smiler verdrehte die Augen. »Ich hab keine Ahnung. Hatte nie von ihr gehört, bis Durban angefangen hat, jedem Gott weiß was anzudrohen, wenn wir’s ihm nich’ sagen. Ich weiß es nich’!« Seine Stimme schwoll an. »Kapiert? Ich – weiß – es – nich’! Und jetzt verschwinden Sie und lassen Sie mich meine Geschäfte erledigen, sonst kommt mir der Hund aus und geht auf Sie los – rein versehentlich natürlich. Ich halte ihn an der Kette, aber manchmal hab ich das Gefühl, sie ist nich’ fest genug für ihn. Nich’ meine Schuld. Andererseits wird Ihnen das auch nich’ viel helfen.«
    Monk zog sich zurück. Tausend Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Er war sich ziemlich sicher, dass Smiler lügen würde, wenn es ihm nützte, aber das, was er gesagt hatte, fügte sich nur zu gut zu den bisherigen Fakten.
    Durban war nicht der schlichte Mann, für den er ihn gehalten hatte und den er in ihm hatte sehen wollen.
    Monk überquerte die Straße und lenkte seine Schritte wieder zur Shadwell High Street.
    Trotz allem konnte er sich gut an den Mann erinnern, den er intensiv kennengelernt hatte: an seine Geduld, seine Offenheit, die Selbstverständlichkeit, mit der er Essen und Wärme geteilt hatte, an seinen Optimismus und sein Mitgefühl sogar für die Elendsten. Konnte das alles wirklich eine Lüge gewesen sein? Sogar sein Lachen? Aber wenn es so war, was war dann an einem Menschen noch wirklich echt?
    Aber was war er selbst vor all den Jahren gewesen? Nichts, was er seine Freunde hätte wissen lassen wollen. Absichtlich hatte er es allerdings vor niemandem verborgen, denn er hatte es selbst nicht gewusst. Aber wenn es ihm gegenwärtig gewesen wäre, hätte er das garantiert getan! Sogar vor Hester. Die großen Dinge vielleicht nicht, aber die kleinen Selbsttäuschungen, die Hässlichkeit, die Schäbigkeit seines Geistes. Und was, wenn es noch viel mehr gab?
    Warum sollte es ihn so sehr bekümmern, dass Durban bis an die Grenzen des Gesetzes gegangen war? Doch wenn Monk es ihm gleichtäte, hätte Phillips erneut gewonnen! Kein Wunder, dass er bei der Urteilsverkündung auf der Anklagebank so gefeixt hatte. Er genoss den Triumph seiner Macht.
    Und über wen hatte er Macht? Männer, die ihren besonderen Bedürfnissen nachgaben, die er befriedigte: den Anblick verängstigter kleiner Jungen, die durch Folter dazu gezwungen worden waren, sich nackt vor ihnen auszuziehen und einander zu missbrauchen? Fotografien? Warum, in Gottes Namen? Welches Bedürfnis wurde mit so etwas gestillt?
    Den Missbrauch von Frauen verabscheute er, aber die Bedürfnisse, die einen Mann dazu trieben, konnte er verstehen, zumindest teilweise. Wenige hätten sich darum gekümmert, wenn es Mädchen getroffen hätte, noch weniger bei erwachsenen Frauen. Aber die Tatsache, dass Jungen benutzt wurden, war etwas anderes – Homosexualität war illegal. Die Männer konnten dadurch in zweifacher Hinsicht zu Phillips’ Opfern werden. Er hatte sie in der Hand, und es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als zu zahlen, wenn sie nicht öffentlich bloßgestellt werden wollten.
    Monk fröstelte, obwohl die Sonne grell vom Wasser reflektiert wurde und die Luft warm war. Irgendwo aus der Ferne wehte die Musik einer Drehleier zu ihm herüber.
    In was für einer Hölle solche Männer leben mussten, die so tief gesunken waren! Aber sie hatten sich das zumindest teilweise selbst zuzuschreiben. Für Jungen wie Fig, möglicherweise Reilly und eine Vielzahl anderer, deren Namen er nie erfahren würde, hatte es keine Wahl und kein Entkommen

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