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Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Augen. Wie musste es sein, wenn man sein neugeborenes Kind jemand Fremdes übergab, es vielleicht nur ein einziges Mal halten durfte, ehe man verblutete und von Fremden beerdigt wurde? Kein Wunder, dass Mrs. Myers auf der Hut und gleichzeitig müde war, dass sie ihr Innerstes mit einem Panzer schützte, damit es nicht in Kummer und Mitleid ertrank.
    »Ich werde meine Tochter Stella fragen«, versprach Mrs. Myers mit leiser Stimme. »Ich glaube zwar nicht, dass sie es weiß, aber wenn Ihnen jemand helfen kann, dann sie.«
    Hester nahm das Angebot sofort an. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank!«
    »Welches Jahr war das?«, erkundigte sich Mrs. Myers und bedeutete ihnen, ihr durch die kahlen, sauberen Flure zu folgen, die allesamt nach Lauge und Karbol rochen.
    »Nach meiner besten Schätzung ungefähr 1810«, antwortete Hester. »Aber dabei kann ich mich lediglich auf die Angaben von Nachbarn der Familie verlassen.«
    »Ich werde tun, was ich kann«, versprach Mrs. Myers zögernd, begleitet vom Klappern ihrer Absätze auf den Holzdielen.
    Dienstmädchen mit Mopps und Eimern schrubbten bei ihrem Näherkommen doppelt so energisch, um auch wirklich eifrig zu wirken. Eine blasse Frau humpelte vorbei und verschwand hastig um eine Ecke. Zwei Kinder mit zotteligem Haar und tränenverschmierten Gesichtern spähten hinter einer Tür auf den Flur hinaus, während Mrs. Myers mit Hester und Scuff im Schlepptau vorbeistürmte, ohne nach links oder rechts zu schauen.
    Sie trafen Stella in einem Zimmer, in das die Sonne schien, beim Tee an. Sie saß mit drei anderen jungen Frauen zusammen, alle in der gleichen schlichten Tracht aus grauer Bluse, grauem Rock und kurzen schwarzen Stiefeln, die allesamt verschmutzt waren und abgetretene Absätze aufwiesen. Bei ihrem Eintreten schenkte eine der jüngeren Frauen gerade aus einer schweren Emaillekanne nach, während Stella sich bedienen ließ.
    Hester nahm an, dass sie sich dieses Privileg als Tochter der Leiterin leisten konnte, doch als sie nahe genug herangetreten waren, erkannte sie, dass Stella blind war. Der Klang der fremden Schritte ließ sie herumfahren, doch sie machte keine Anstalten, zu sprechen oder aufzustehen.
    Mrs. Myers stellte Hester vor, ohne Scuff zu erwähnen, und erklärte den Grund ihres Kommens.
    Mit schiefgelegtem Kopf, als starrte sie zur Decke hinauf, überlegte Stella einen langen Moment. »Davon weiß ich nichts«, erklärte sie schließlich. »Mir fällt auch niemand ein, der sich so weit zurückerinnern könnte.«
    »Wir haben doch einige Leute, die alt genug wären«, half ihre Mutter nach.
    »Wirklich? Ich wüsste nicht, wen«, fragte Stella auffällig hastig.
    Mrs. Myers lächelte, doch Hester erkannte darin eine fast übermächtige Traurigkeit. »Mr. Woods könnte vielleicht …«
    »Der erinnert sich ja nicht mal an seinen eigenen Namen!«, unterbrach Stella sie in sanftem, doch bestimmtem Ton. »Inzwischen gerät er immer so schnell durcheinander.«
    Mrs. Myers rührte sich nicht von der Stelle. »Mrs. Cordwainer?«, schlug sie vor.
    Stille breitete sich aus. Niemand regte sich.
    Schließlich war es Stella, die das Schweigen brach. »Ich kenne sie nicht gut genug, um sie nach solchen Dingen zu fragen«, meinte sie mit rauer Stimme. »Sie ist sehr … alt. Sie könnte womöglich …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
    »Vielleicht, ja«, räumte Mrs. Myers ein. Sie schien zu zögern, sich dann aber doch zu einer Entscheidung durchzuringen. »Mrs. Monk kann ja noch eine Weile bleiben und mit dir sprechen.Vielleicht fällt dir doch noch etwas ein. Aber ich muss mich entschuldigen.« Damit verließ sie eilig den Raum, und das Klappern ihrer Absätze verhallte im Flur.
    Hester musterte Stella. Insgeheim fragte sie sich, ob die Blinde sich des prüfenden Blicks bewusst war. Konnte sie Stimmen lesen wie andere den Ausdruck eines Gesichts?
    »Miss Myers«, begann Hester, »diese Angelegenheit ist für einige andere Personen, aber auch für mich von höchster Bedeutung. Ihr ganzes Ausmaß habe ich Ihrer Mutter noch gar nicht erklärt. Wenn es mir gelingt, die gesuchte Frau zu finden, könnte sie helfen, bestimmte Verdächtigungen, die ich für hochgefährlich halte, aus der Welt zu schaffen. Ohne ihre Hilfe hingegen kann ich nichts beweisen. Wenn Ihnen noch jemand einfällt, den man fragen könnte, bitte führen Sie mich zu ihm oder ihr. Ich habe keine andere Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren.«
    Langsam wandte sich Stella ihr zu, die Stirn

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