Galgenfrist für einen Mörder: Roman
in tiefe Falten gelegt. Sie rang sichtlich um eine Entscheidung, die ihr ungeheuer schwerfiel. Ihre Miene verriet tiefes Mitleid, als hätte sie nicht nur Hesters Gesicht erforscht, sondern sogar die Emotionen, die sich in ihrem Blick spiegelten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, von jemandem so aufmerksam studiert zu werden, der nichts sehen konnte.
»Mrs. Monk, wenn … wenn ich Sie zu Mrs. Cordwainer bringe, werden Sie dann auch Diskretion über alles wahren, was Sie in ihrem Haus sehen oder hören? Können Sie mir darauf Ihr Wort geben?«
Hester war verblüfft. Mit allen Arten von Bitten hatte sie gerechnet, aber nicht mit dieser. Was, um alles auf der Welt, konnte Mrs. Cordwainer treiben, das ein solches Versprechen erforderte? Würde man Hester am Ende zu etwas auffordern, das ihr Gewissen belastete? Wurde die alte Frau auf irgendeine Weise betrogen oder missbraucht? Doch je länger sie Stellas Gesicht betrachtete, desto weniger konnte sie sich das vorstellen.
»Wenn ich Ihnen ein solches Versprechen gebe«, fragte sie zögernd, »werde ich das dann irgendwann bedauern?«
Stellas Lippen zitterten. »Womöglich«, flüsterte sie. »Aber ich kann Sie nicht zu ihr führen, wenn ich diese Sicherheit nicht habe.«
»Hat Mrs. Cordwainer ein besonderes Leiden? Wäre das der Fall, würde es mir allerdings äußerst schwerfallen, nicht mein Möglichstes zu tun, um zu helfen.«
Stella wäre fast in Lachen ausgebrochen, aber dann lächelte sie nur. »Das hat sie nicht, das kann ich Ihnen mit absoluter Gewissheit sagen.«
Hesters Verblüffung wuchs, aber wenn sie diese Bedingung nicht akzeptierte, musste sie ihr ganzes Unterfangen begraben. »In diesem Fall gebe ich Ihnen mein Wort«, erklärte sie mit fester Stimme.
Immer noch lächelnd, erhob sich Stella. »Dann bringe ich Sie zu Mrs. Cordwainer. Sie lebt in einem kleinen Häuschen auf dem Krankenhausgelände. Um diese Zeit schläft sie, aber wenn es um Fragen über die Vergangenheit geht, wird es ihr nichts ausmachen, dass wir sie wecken. Sie erzählt für ihr Leben gern Geschichten über die Zeit ihrer Jugend.«
»Darf … darf ich Ihnen helfen?«, erbot sich Scuff zögernd.
Jetzt war es an Stella, zu überlegen, ehe sie antwortete. Schließlich nahm sie an. Hester war allerdings längst klar, dass sie sich im Krankenhaus und auf dem dazugehörenden Grundstück trotz ihrer Blindheit besser zurechtfinden würde als Scuff. Mit einem wissenden Lächeln folgte sie den beiden, die Seite an Seite zur Tür und weiter den Flur entlangschritten, wobei Stella so tat, als wüsste sie nicht, wohin sie den Fuß setzte, und Scuff, als kenne er sich aus.
Sie verließen das Hauptgebäude, liefen einen ausgetretenen Pfad hinunter und erklommen eine kurze Treppe, die zu mehreren in einer Reihe stehenden Häuschen führte. Stella kannte den Weg anhand der Zahl der Schritte genau. Kein einziges Mal zögerte oder stolperte sie. Ein Sehender hätte sich bei Dunkelheit verirrt, sie fand sich zurecht. Hester begriff, dass sie es jeden Tag so machte, und fast fühlte sie sich schuldig, weil sie das helle Sonnenlicht und die Farben sehen konnte.
Stella klopfte an die Tür eines Häuschens, und sofort wurde sie ihr geöffnet. Heraus trat ein Mann Mitte vierzig, der schüchtern und schlicht wirkte, aber dessen Augen große Intelligenz verrieten. Als er Stella entdeckte, hellten sich seine Züge freudig auf. Erst danach merkte er, dass sie nicht allein war.
Stella stellte ihre Begleitung vor und erklärte den Zweck ihres Besuchs. Der Mann war Mrs. Cordwainers Sohn. Demnach musste ihn seine Mutter spät im Leben bekommen haben, wenn sie wirklich so alt war, wie Mrs. Myers gemeint hatte.
»Aber selbstverständlich.« Er lächelte Hester und Scuff an. »Mama wird Ihnen bestimmt gerne Auskunft erteilen, wenn sie kann.« Er führte sie in ein kleines sonniges Zimmer, wo eine alte Dame, in einen leichten Schal gewickelt, in einem Sessel saß und ganz offensichtlich schlief. Ein Buch, die Übersetzung eines Dramas von Sophokles, lag auf einem Stuhl, wo Mr. Cordwainer es wohl eilig abgelegt hatte, um die Tür zu öffnen.
Erst als sich Stella in einem der Sessel niedergelassen hatte, registrierte Hester mit einigem Staunen und dann mit plötzlichem Verstehen, dass Cordwainer sie weder geführt noch auf den Standort des Sessels aufmerksam gemacht hatte. Sie war demnach so weit mit dem Zimmer vertraut, dass sie keine Hilfe benötigte, und er wusste das. Vielleicht achtete man ihr zuliebe
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