Galgenfrist für einen Mörder: Roman
Mary nicht finden«, flüsterte er. »Das ist eine lange Geschichte. Ein bisschen Sorglosigkeit, Einsamkeit, der Wunsch, zu gefallen, vielleicht auch etwas zu viel Vertrauensseligkeit, aber kein eigenes Verschulden, kein wirkliches.«
Einmal mehr war Hester völlig verwirrt. Unwillkürlich flüsterte auch sie. »Wovon sprechen Sie?«
»Mary«, antwortete Mr. Cordwainer. »Sie ist im Gefängnis. Meine Mutter hat den Kontakt mit ihr aufrechterhalten, dem Jungen zuliebe. Als sie dann alt wurde, bin mehr oder weniger ich an ihre Stelle getreten.«
»In welchem Gefängnis ist sie?« Hester spürte, wie ihr ein Knoten in der Kehle die Luft abdrückte. Kein Wunder, dass Durban seine Schwester nicht hatte aufspüren können. Oder vielleicht doch? Und seine Suche hatte ihn zu einer Tragödie geführt? Wie schrecklich ihn das geschmerzt haben musste! Hatte Mary womöglich in irgendeiner Verbindung zu Jericho Phillips gestanden? Plötzlich wünschte sich Hester inbrünstig, sie hätte weder Mrs. Myers noch die alte Mrs. Cordwainer nach ihr gefragt. Doch jetzt war es zu spät.
»Holloway«, sagte Mr. Cordwainer. Er beobachtete Hester und las in ihrem Gesicht die Desillusionierung. »Sie ist keine schlechte Frau«, fügte er sanft hinzu. »Sie war mit einem Schiffsausrüster namens Fishburn verheiratet. Er verlor bei einem Unfall das Leben. Wurde von einem Wagen erdrückt, der von selbst losgerollt war. Hinterließ ihr das Haus, aber nicht viel mehr. Sie verkaufte es und erstand ein anderes, meilenweit davon entfernt, in Deptford. Das wandelte sie in eine Pension um. Wechselte den Namen, um Fishburns Gläubigern zu entkommen. Anscheinend hatte er gern gespielt.« Er seufzte. »Einer ihrer Mieter war ein Dieb. Das wusste sie nicht. Und als er floh, wurde sie mit den Sachen, die er gestohlen hatte, erwischt. Sie hatte sie als Entschädigung für die nicht gezahlte Miete behalten, aber die Polizei glaubte ihr nicht. Dafür bekam sie sechs Monate und verlor natürlich das Haus.«
»Das tut mir leid«, murmelte Hester in aufrichtiger Anteilnahme. »Was wird aus ihr, wenn sie wieder frei ist?«
Seine traurige Miene war Antwort genug.
»Vielleicht kann ich ihr Arbeit besorgen«, sagte Hester, noch bevor sie sich klargemacht hatte, was das alles nach sich ziehen würde. Vielleicht mochte sie die Frau gar nicht. Sie hatte ja nur Cordwainers Wort, dass sie keine Diebin oder Hehlerin war.
Er lächelte sie an und nickte bedächtig.
Stella und Scuff warteten draußen. Sie dankte Cordwainer noch einmal und folgte ihnen.
Zurück im Hauptgebäude, bedankte sie sich bei Stella, die sie mit ihren blinden Augen besorgt anstarrte und noch einmal an ihr Versprechen erinnerte. Hester versicherte ihr, dass sie es nicht vergessen hatte, und verabschiedete sich.
Als Scuff und sie sich dem Portal näherten, lief ihnen Mrs. Myers über den Weg. Hester hoffte aus tiefstem Herzen, dass es ihr erspart bleiben würde, zu lügen, doch zur Not war sie durchaus dazu bereit. Schließlich hatte sie Stella ihr Wort gegeben, ihr Wissen über ihre Romanze für sich zu behalten. Andererseits war sie so lange in dem Häuschen gewesen, dass sie unmöglich behaupten konnte, die alte Mrs. Cordwainer nicht gesprochen zu haben. Außerdem war Scuff dicht neben ihr. Und nur zu eindringlich war ihr bewusst, wie sehr ihr an seiner Meinung über ihre Aufrichtigkeit gelegen war.
Mrs. Myers lächelte. »Hat Stella Sie doch noch zur alten Mrs. Cordwainer geführt?«
»Ich konnte sie dazu überreden.« Hester überlegte fieberhaft, wie sie die Antwort formulieren sollte, damit es so klang, als hätte ihr die alte Dame die nötige Information von selbst gegeben, ohne dass sie ihren Sohn erwähnte. Aber ihr fiel einfach nichts ein. Sie würde wohl doch lügen müssen. Das wiederum wäre ihr so viel leichter gefallen, wenn Scuff nicht dabei gewesen wäre.
Mrs. Myers nickte. »Das wird bestimmt nicht allzu schwierig gewesen sein.«
Darauf erwiderte Hester nichts. Die Situation war ihr noch unangenehmer, als sie erwartet hatte.
Mrs. Myers bohrte weiter. »Konnte sie Ihnen denn helfen?«
Noch eine Lüge. Wenn ihr nicht rasch etwas einfiel, musste sie zugeben, dass Cordwainer dabei gewesen war. Da war die Lüge das geringere Übel. »Ja, danke. Endlich habe ich eine genaue Vorstellung davon, wo ich suchen muss.«
»Es macht mir wirklich nichts aus, wissen Sie«, sagte Mrs. Myers sanft.
»Wie bitte?« Hester verstand jetzt überhaupt nichts mehr, vermutete aber, dass sie
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