Galgenfrist für einen Mörder: Roman
sie selbst einen Kommentar zu irgendetwas abgibt. Sie soll keine eigene Meinung haben.« Sie unterdrückte einen Seufzer. »Ja, wirklich, ich bin mir sicher, dass es Ballinger war. Ich habe ihn ja oft genug reden hören. Man muss ja auch lauschen, ob man will oder nicht, weil man sonst nicht die erwünschten Fragen stellen kann. Manchmal ist das Gerede nicht einmal ansatzweise interessant.«
Sie blieb abrupt stehen.
Im ersten Moment überlegte Squeaky, ob ihr noch etwas eingefallen war, das sie erschreckt hatte, oder ob ihr einfach die Füße zu weh taten, um weiterzulaufen. Erst verspätet registrierte er, dass sie eine Kreuzung mit zwei belebten Straßen erreicht hatten und dass sie hoffte, endlich einen Hansom zu ergattern.
Als er einen herbeigewinkt hatte und sie zu guter Letzt dicht nebeneinandersaßen, sprach sie weiter.
»Wenn Mr. Ballinger in diese Geschäfte verwickelt ist«, murmelte Claudine mit zittriger Stimme, »wird das … sehr peinlich.«
Gelinde gesagt, dachte Squeaky. Ein Skandal ersten Ranges wäre das. Lady Rathbones Vater!
»Es könnte sogar Sir Oliver in ein schlechtes Licht rücken«, führte Claudine ihren Gedanken fort. »Denn er war Phillips’ Verteidiger. Viele Menschen werden nicht akzeptieren wollen, dass er höchstwahrscheinlich nichts von dieser Verbindung wusste. Vielleicht wird er am Ende beschuldigt, an den Profiten beteiligt gewesen und davon … korrumpiert worden zu sein. Mrs. Monk wird darüber sehr unglücklich sein.«
Squeaky schwieg. Er malte sich aus, wie schrecklich das wäre. Der Konflikt heute Morgen in Hesters Büro würde paradiesisch wirken im Vergleich zu dem, was alles nachfolgen konnte.
»Darum wäre ich Ihnen sehr dankbar, Mr. Robinson, wenn Sie für sich behalten könnten, dass ich Mr. Ballinger gesehen habe, zumindest fürs Erste. Bitte.«
Genau das war das einzig Ehrenhafte, das einzig Richtige. »Gut«, stimmte er ihr, ohne zu zögern, zu. »Ich werd ihr nix sagen. Geben Sie mir Bescheid, wann Sie bereit sind.«
»Danke.«
Schweigend fuhren sie ein gutes Stück weiter. Squeaky war sich nicht sicher, aber er glaubte fast, Claudine wäre eingeschlafen. Armes Ding. Sie musste so müde sein, dass sie wohl auch im Stehen eingeschlafen wäre, zumal sie sich jetzt in Sicherheit wusste. Bestimmt war sie auch hungrig und würde sich nichts mehr wünschen als eine Tasse richtig heißen Tee. Außer vielleicht ein Bad. Komisch, dass Frauen es so sehr liebten, zu baden.
Mitternacht war vorbei, als sie in der Portpool Lane eintrafen. Hester war immer noch da. Sie hatte sich in einen der Sessel in der Empfangshalle geschmiegt, von wo man jeden Neuankömmling eintreten sehen konnte, und schlief. Die Beine hatte sie untergeschlagen, und ihre Stiefel standen vor ihr auf dem Boden. Doch kaum hatte sie ihre Schritte vernommen, fuhr sie hoch und blinzelte sie an. Sie erkannte Squeaky, noch bevor sie merkte, dass die Person neben ihm Claudine war. Dann rappelte sie sich hastig auf, rannte durch die Vorhalle und schlang die Arme um Claudine, ehe sie mit geröteten Wangen und vor Erleichterung feuchten Augen Squeaky von ganzem Herzen dankte.
»Is’ schon gut«, murmelte er verlegen und machte eine wegwerfende Bewegung, wie um das Ganze abzutun. »War ja nix. Sie hatte sich verlaufen, das war alles.«
Ein Blick auf ihn und dann auf Claudine genügte Hester, um zu merken, dass sein Nix sehr viel war. Aber sie wollte nicht nachfragen. Im Augenblick war sie vor allem eines: überglücklich, Claudine in Sicherheit zu wissen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie groß ihre Angst um Claudine gewesen war. Wenn sie in der Stadt herumgelaufen war und Erkundigungen über Phillips eingeholt hatte, wäre diesem jederzeit zuzutrauen gewesen, dass er sie umbrachte, ohne dass sie je davon erfuhren. Sie wäre dann eben eine von vielen Bettlerinnen gewesen, die an Kälte, Hunger oder irgendeiner nicht näher bezeichneten Krankheit gestorben waren. Selbst ein Überfall durch einen Messerstecher oder Würger hätte niemanden in Aufregung versetzt.
Noch einmal dankte sie Squeaky, dann berichtete sie Ruby, dass Claudine wohlbehalten zurückgekehrt war. Wallace Burroughs würde sie eine ungestörte Nachtruhe gönnen, wenn er denn schlafen konnte, und ihm erst am Morgen eine Nachricht senden, falls Claudine nicht nach Hause fahren und es ihm persönlich sagen wollte. Und wenn sie dazu nicht bereit war, dann war das ihre Sache.
Eine Botschaft würde sie aber ganz bestimmt abschicken: Rathbone
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