Galgenfrist für einen Mörder: Roman
sollte unbedingt von dem glücklichen Ausgang erfahren. Die Höflichkeit gebot, dass sie das Schreiben auch an Margaret richtete.
Beim Frühstück am nächsten Morgen in der großen Küche fragte sie Squeaky, ob Claudine etwas entdeckt hatte, bekam aber zu hören, dass er keine Ahnung habe. Noch während er ihr das versicherte, wirkte er etwas überrascht. Es dauerte einen langen Moment, bis sie begriff, dass es nicht die Vergeblichkeit von Claudines Unterfangen war, die ihn überraschte, sondern seine eigene Antwort. Das konnte nur bedeuten, dass er log, weil er Claudine einen Gefallen tun wollte.
Sie schaute ihm eindringlich in die Augen, und er erwiderte ihren Blick mit einem unverwandten, fast feindseligen Starren. Unwillkürlich lächelte sie. Squeaky versuchte doch tatsächlich, Claudine zu schützen.
Als sie ihr Toastbrot gegessen und ihren Tee getrunken hatte, kochte Hester eine zweite Kanne Tee und trug sie auf einem Tablett nach oben zu Claudine. Diese war bei ihrem Eintreten gerade aufgewacht und sehnte sich nach nichts mehr als nach einer Tasse Tee.
Während Claudine aß und trank, setzte sich Hester auf die Bettkante und sprach das Thema direkt an.
»Was haben Sie entdeckt?«
Claudine starrte sie über ihre Tasse hinweg an.
»Ich habe Squeaky dieselbe Frage gestellt, doch er will mir nichts verraten«, erklärte Hester. »Er behauptet, er wisse nichts, aber das ist eine Lüge und bestärkt mich nur in der Annahme, dass es etwas Wichtiges ist.«
Langsam trank Claudine ihren Tee, womit sie Zeit gewann, sich zu sammeln. Schließlich stellte sie die Tasse auf dem Nachtkästchen ab, holte noch einmal tief Luft und begann mit ihrem Bericht. »Ich bin auf einen Laden gestoßen, wo pornografische Fotografien von kleinen Jungen verkauft wurden. Zwei davon habe ich gesehen. Sie waren schrecklich … Ich möchte nicht darüber sprechen. Ach, wenn sie mir nur nicht ständig durch den Kopf gingen! Ich wusste nicht, wie schwer es ist, etwas aus der Erinnerung zu bannen, wenn man erst einmal einen Blick darauf geworfen hat. Es ist wie ein Schmutzfleck, den man selbst mit noch so viel Seife nicht beseitigen kann.«
»Er bleicht mit der Zeit aus«, tröstete Hester sie. »Und je mehr anderes Eingang in den Kopf findet, desto weniger Raum nimmt das Schreckliche ein. Drängen Sie es einfach hinaus, wann immer es zurückkehrt. Irgendwann wird es Ihnen nichts mehr anhaben können.«
»Haben Sie schon einmal solche Bilder gesehen?«
»Das nicht. Aber andere Dinge. Auf dem Schlachtfeld. Bilder und Geräusche. Wenn wir jemanden mit Stichwunden in unsere Klinik hereinbekommen, bringt der Geruch von Blut alles wieder zurück.«
Claudine sah Hester voller Mitleid an.
»Warum konnte mir Squeaky das nicht erzählen?«, fragte Hester nachdenklich. »Die Tatsache, dass solche Bilder im Umlauf sind, ist doch nichts Neues.«
»Nein, natürlich nicht, aber es ging auch nicht um die Karten selbst«, antwortete Claudine, »sondern um den Mann, den ich vor dem Laden gesehen habe, mit Bildern in der Hand. Er hat mir zwei Streichholzschachteln abgekauft und mich dabei eindringlich angestarrt. Ich dachte schon, er hätte mich erkannt. Das ist der Grund, warum ich weggelaufen bin.«
Hester runzelte die Stirn. Sie konnte Claudines Logik nicht ganz folgen. »Wen haben Sie gesehen?«
Claudine biss sich auf die Lippe. »Mr. Ballinger, Lady Rathbones Vater.«
Hester prallte ungläubig zurück. Das war unfassbar! Doch wenn es zutraf, lieferte es die passende Erklärung für Rathbones Zwangslage. »Sind Sie sicher?«, fragte sie.
»Ja. Ich bin ihm vorher mehrmals begegnet, bei Festessen und Bällen. Mein Mann ist gut mit ihm bekannt. Und diesmal stand er dicht vor mir.«
Hester schüttelte bestürzt den Kopf. Das war entsetzlich! Wie konnte Margaret das ertragen – falls sie es überhaupt zu glauben imstande war? Und wenn sich die Nachricht verbreitete? Hatte Rathbone das geahnt? Wie würde er es betrachten: voller Abscheu, voller Mitleid? Würde er zu seinem Schwiegervater halten? Würde er Margaret und ihre Mutter schützen? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er es bereits wusste. Doch eines Tages würde er es erfahren müssen. Konnte er sich irgendwie darauf vorbereiten?
Sie riss sich aus ihren Überlegungen. »Ihr Mann war um Sie besorgt«, berichtete sie Claudine. »Möchten Sie, dass ich ihm einen Brief schreibe? Ich könnte vorschützen, dass Sie wegen eines Notfalls in der Klinik festgehalten wurden. Wir sollten ihm
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