Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Galgenfrist für einen Mörder: Roman

Titel: Galgenfrist für einen Mörder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Drangs beurteilen, der Monk dazu trieb, exakt dem Weg zu folgen, den Durban beschritten hatte«, erklärte Rathbone. »Sie haben Mrs. Monk zugehört und werden sich eine Meinung über ihren Mut und ihre Leidenschaft gebildet haben. Das ist eine Frau, die aus dem gleichen Holz wie Florence Nightingale geschnitzt ist, eine Frau, die zwischen den Toten und den Sterbenden über Schlachtfelder gegangen und dabei weder in Ohnmacht gefallen noch in Tränen ausgebrochen ist, sich nie abgewandt hat, sondern ihren Mut gestählt und ihre Entscheidungen getroffen hat. Mit Skalpell und Nadel, Verband und Wasser hat sie Leben gerettet. Was würde sie nicht alles tun, um den Mann der Gerechtigkeit zu überantworten, der Kinder missbraucht und ermordet hat – einen Jungen ganz ähnlich dem Mudlark , den sie wie ein eigenes Kind bei sich aufgenommen hat?«
    Er senkte die Stimme. »Sind Sie bereit, Jericho Phillips in der über jeden vernünftigen Zweifel erhabenen Gewissheit zu hängen, dass diese leidenschaftlichen, berechtigterweise empörten Menschen sich von ihren Gefühlen losgelöst und zu einer analytischen Beurteilung gefunden haben, dass sie keinen Fehler begangen und in der Masse der vielen, die an dem meistbefahrenen Fluss der Welt ihr Dasein fristen, den richtigen Mann aufgespürt haben?«
    Regungslos stand er in der Mitte des Gerichtssaals. »Wenn Sie sich aber nicht sicher sind, dann dürfen Sie Mr. Phillips um unser aller Wohl willen nicht für schuldig befinden. Und vor allem um des Gesetzes willen, das die Schwächsten, die Ärmsten, die am wenigsten Geliebten unter uns allen schützen muss, so wie es auch die Starken, die Schönen und die Guten behütet. Wenn Sie das nicht berücksichtigen, dann verliert das Gesetz seine Fähigkeit, zu schützen, und verkommt zu einem Instrument unserer Macht und unserer Vorurteile. Meine Herren, ich überlasse die Beurteilung Ihnen. Nicht damit Sie voller Mitleid und Empörung abwägen, sondern im Einklang mit Ihrer Ehre und dem heiligen Prinzip der Gerechtigkeit, mit der eines Tages über uns alle gerichtet werden wird.«
    Er setzte sich. Niemand bewegte sich. Nicht das geringste Geräusch war zu hören.
    Nach einem Moment forderte Richter Sullivan die Geschworenen mit gedämpfter Stimme auf, sich zurückzuziehen und über ihr Urteil zu beratschlagen.
    Binnen einer Stunde kehrten sie zurück, ohne irgendjemanden anzublicken. Glücklich waren sie nicht, aber entschlossen.
    Sullivan bat ihren Sprecher, ihr Urteil bekanntzugeben.
    »Nicht schuldig«, erklärte dieser mit leiser, klarer Stimme.

4
    Benommen kauerte Monk auf seinem Platz im Gerichtssaal. Hester, die neben ihm saß, war erstarrt. Obwohl sie einander nicht berührten, konnte Monk förmlich spüren, wie ihr Hals und ihr Rücken steif wurden. Dann hörte er, wie sie sich bewegte, und ihm wurde klar, dass sie sich ihm zugewandt hatte. Doch was konnte er ihr sagen? Er war sich des Urteils so sicher gewesen, dass er es nicht für nötig gehalten hatte, Phillips auch noch den versuchten Mord an dem Fährschiffer anzulasten. Und jetzt war Phillips verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
    Schweigend verließen sie den Gerichtssaal und folgten den Menschen auf die Straße hinaus. Statt auf einen Pferdeomnibus zu warten, trotteten sie zu Fuß den Ludgate Hill hinauf, um dann links zur Blackfriars Bridge abzubiegen. Unterhalb von ihnen glänzte der Fluss in der tiefstehenden Spätnachmittagssonne. Vergnügungsboote, geschmückt mit bunten Fahnen und im Wind flatternden Girlanden, tummelten sich auf den Wellen. Über das Wasser wehte die Musik einer irgendwo am Ufer spielenden Drehorgel zu ihnen her.
    Langsam überquerten sie die Brücke, die Augen auf das schimmernde Kielwasser der Boote gerichtet. Am anderen Ufer angelangt, stiegen sie in einen Pferdeomnibus. Schweigend saßen sie auf der Bank, bis sie eine Viertelmeile vor der Paradise Place ausstiegen. Anstatt sofort nach Hause zu gehen, nahmen sie einen kleinen Umweg zu einem auf einem Hügel gelegenen Park, um noch ein wenig die frische Luft zu genießen.
    Im Park war es ruhig, durch das Laub strich raschelnd eine leichte Brise. Man hätte meinen können, jemand atmete leise im Schlaf.
    Gut ein halbes Dutzend Mal hatte Monk sein Schweigen brechen wollen, doch die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, erschienen ihm unpassend, wie eine plumpe Selbstrechtfertigung. Was dachte Hester jetzt von ihm? Rathbone hatte ihn als Zeugen aufgerufen. Er musste schon vorher genau

Weitere Kostenlose Bücher