Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
sind keineswegs immun gegen die in England üblichen Borniertheiten. Einen verwirrenden Moment lang versetzte mich die kultivierte Artikulation dieser Anwältin direkt zurück in meine ersten Tage und Wochen an der Glasgow University. Dort war ich von so vielen Privilegierten aus gutem Hause umgeben gewesen, dass ich anfangs kaum gewagt hatte, den Mund aufzumachen – aus Angst, wie ein Bauer aus Ayrshire zu klingen. Als ich endlich den Mut fand, mich mit einem Mädchen zu verabreden, fühlte ich mich genauso wie der Poet Robert »Rabbie« Bruns bei seiner Ankunft in der bürgerlichen Gesellschaft von Edinburgh: herablassend behandelt. Gerade Campbells Anbiederung ans »gemeine Volk« (»Nennen Sie mich einfach Sam«) riss bei mir alte Wunden wieder auf.
Ich bemerkte, wie meine Ohren zu glühen begannen. Doch dann machten sich die sechs Jahre Militärdienst bemerkbar. Immerhin hatte ich eine Kompanie von rund 200 Kampfsoldaten befehligt, und da spielten Dialekte keinerlei Rolle, lediglich die Taten. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob man aus dem Fuchsbau kroch und angriff, wenn der Pfiff ertönte.
»Hugh Donovan war mein Freund. Und ist es immer noch«, erklärte ich schließlich.
»Einen Freund hat er auch bitter nötig«, erwiderte sie trocken. »Kommen Sie.«
Sie drehte sich um und führte mich den düsteren Gang entlang in ein ebenso düsteres Zimmer. Trotz der Bücherregale an den Wänden, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, blieb kaum Platz für die mit rotem Band verschnürten Aktenstapel. Ohne Rücksicht auf Verluste waren sie quer über den ganzen Boden verteilt.
Miss Campbell kletterte geschickt über einen der Papierberge und ließ sich auf ihrem Chefsessel nieder, während ich ihr gegenüber Platz nahm. Auf dem Schreibtisch lag nur eine einzige Akte. Man musste kein Talent dafür besitzen, auf dem Kopf stehende Schriften zu entziffern, um zu wissen, dass auf dem Deckblatt der Name Hugh Donovan stand.
Während Miss Campbell die Akte durchblätterte, ärgerte ich mich zunehmend darüber, dass sie sich mir gegenüber so schroff und abweisend verhielt. Ich hatte diese Pilgerfahrt zu ihrem Büro nur wegen ihres Klienten auf mich genommen, einem Menschen zuliebe, dem ich mein halbes Leben lang am liebsten bei der nächstbesten Gelegenheit den Hals umgedreht hätte. Wieso sollte ich mich überhaupt darum bemühen, einen anderen davon abzuhalten, es an meiner Stelle mit offizieller Erlaubnis zu tun?
Schließlich musterte ich mein Gegenüber von oben bis unten. Die Anwältin war sicher einige Jahre älter als ich. Ich schätzte sie auf Ende 30, vielleicht auch Anfang 40, allerdings deutlich jünger als der grantige Senior, den ich mir im Vorfeld des Treffens ausgemalt hatte. Mit den kulleräugigen Püppchen, die in vielen Büros herumlungerten, verband sie nicht viel, und sie schien es auch nicht darauf anzulegen. Ihr Gesicht war blass und ungeschminkt, deshalb fielen die zahlreichen Sommersprossen auf ihrer Nase besonders stark auf. Jede Wette, dass Miss Campbell sie verabscheute.
Das kurze aschblonde Haar hatte die Anwältin streng hinter die Ohren zurückgekämmt und mit Haarklammern befestigt. Die blauen Augen gingen hinter den dicken Brillengläsern in Lauerstellung. Eine graue Strickjacke und ein unauffälliger Rock verhüllten die schlanke Figur. Vor zehn Jahren hatte sie vielleicht noch dem Klischee der mausgrauen Bibliothekarin entsprochen, die sich bei richtiger Beleuchtung, mit dem richtigen Make-up und der richtigen Menge an Schönheitsschlaf in einen aufreizenden Vamp verwandeln konnte. Zumindest für kurze Zeit.
Als sie aufsah und die Brille absetzte, waren die dunklen Ringe unter den Augen – Zeichen ihrer Erschöpfung – und der Ansatz von Krähenfüßen in den Augenwinkeln deutlich zu erkennen.
»Fertig, Mr. Brodie?«
»Womit bitte?«
»Mit der Inspektion.«
»Das gehört zu meinem Job.« Ich hoffte, dass sie meine Gedanken nicht gelesen hatte.
»Ach ja, richtig, der Polizeireporter.« Das klang bei ihr so, als würde ich einem besonders widerwärtigen Hobby nachgehen oder besäße die Angewohnheit, meine abgeschnittenen Zehennägel zu verspeisen. Bei dem Gefängnisdirektor war mir diese Reaktion ja noch irgendwie nachvollziehbar erschienen, aber wieso stufte selbst eine verdammte Rechtsanwältin meine Arbeit als dermaßen verachtenswert ein? Allmählich ging mir dieses »Gespräch« auf die Nerven. Schließlich hatte ich es gar nicht nötig, mich mit dieser Frau
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