Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
zum Puzzle. Hugh erzählte, Sie kannten Fiona ebenfalls gut?«
Oh ja, Fiona, wir beide kennen uns gut. Ich nickte. »Ist das alles?«
Sie bog schließlich noch den ausgestreckten Daumen nach unten, sodass sich ihre Hand zu einer Faust ballte. »Nur noch eine winzige Kleinigkeit: Hugh hat ein volles Geständnis abgelegt.«
10
Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht. Jetzt fehlten nur noch Aufnahmen der Wochenschau, die detailliert zeigten, wie Hugh den Jungen ermordete. Ansonsten war der Fall so wasserdicht wie ein Dampfer auf dem Clyde.
»Er hat alle fünf Morde gestanden?«
»Nein, lediglich den an Rory.«
»Nötigung?«
»Sie wollen wissen, ob er möglicherweise zu dem Geständnis gezwungen wurde? Ja, daran habe ich keinen Zweifel. Bei uns sind Ihre früheren Kollegen nicht gerade dafür bekannt, dass sie Mitgefühl mit Kinderschändern besitzen. Und noch viel weniger mit Kindsmördern. Als ich Hugh zum ersten Mal sah, war sein Gesicht – oder besser gesagt: das, was noch davon übrig war – mit Blutergüssen übersät, genau wie der ganze Körper. Widerstand gegen die Staatsgewalt bei der Festnahme, hieß es im Protokoll. Bis zum Prozess waren die Wunden weitgehend abgeheilt. Und natürlich behauptete die Polizei, sie hätte ihn mit Samthandschuhen angefasst.«
Ich nickte. So etwas kannte ich nur allzu gut. Ich erinnerte mich an jede Menge Verhöre, bei denen der großzügige Einsatz des Schlagstocks und Fußtritte an die Stelle sanfter Überredungskunst getreten waren. Mich freiwillig für den Dienst an der Front zu melden, fiel mir deshalb nicht sonderlich schwer. Allerdings fanden sich auch dort unter den Kameraden, überwiegend Freiwillige wie ich selbst, nicht sonderlich viele Chorknaben.
»Hat er sein Geständnis vor Gericht widerrufen?«
Sie beugte sich zu mir vor und schüttelte den Kopf. »Nicht ausdrücklich. Hugh war – und ist – ein kranker Mann. Während des Prozesses versorgte man ihn zwar mit Schmerztabletten, aber entweder zu wenigen oder – hin und wieder – auch zu vielen. Er strahlte so etwas wie Schicksalsergebenheit aus. Er wollte einfach alles schnell hinter sich bringen. Die Gerichtsverhandlung. Die Schmerzen. Sein Leben.«
»Der arme Kerl.«
»Das ist er wirklich«, erwiderte sie. Beide schwiegen wir eine Zeit lang.
Bis mir ein neuer Gedanke kam. »Gab es überhaupt irgendwelche Zeugenaussagen? Hat jemand etwas gehört? Hugh erzählte mir, dass er im zweiten Stock eines Mietshauses wohnte, in einem Zimmer neben einer Familie, die aus der Mutter und vier Kindern bestand. Die müssen doch etwas mitbekommen haben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Polizei nahm ihre Aussagen gleich nach Hughs Festnahme zu Protokoll. Angeblich nichts gehört oder gesehen.«
»Haben Sie die Familie persönlich befragt? Während der Gerichtsverhandlung?«
Sie seufzte. »Die Leute sind gar nicht erst aufgetaucht. Spurlos verschwunden.«
»Verschwunden? Wie meinen Sie das? Alle fünf?«
»Die Wohnung wurde einige Wochen vor Prozessbeginn geräumt. Die Familie hat keine neue Adresse hinterlassen. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist. Das passiert schon mal. Die Polizei behauptet, sie hätte in jeder Richtung ohne Ergebnis ermittelt. Passte ihr sicher gut ins Konzept.«
»Das stinkt doch zum Himmel!«
Hinter mir klirrte Porzellan, gleich darauf knallte eine Tür. Die Empfangsdame kam mit einem Tablett und Sauertopfmiene herein, donnerte das Tablett auf den Tisch und verschwand mit einem ironischen »Ihr Tee, Miss!« wieder in ihrem Bau. Zum ersten Mal tauschten Samantha Campbell und ich ein Lächeln aus. Sie wirkte mit einem Mal wesentlich jünger. »Also, was meinen Sie dazu?«, fragte sie.
»Ich denke, wir haben ein Riesenproblem!« Ich nahm einen Schluck Tee. »Darf ich mir das Gerichtsprotokoll mal genauer anschauen?«
»Bedienen Sie sich.« Sie schob mir die Akte zu. »Ich lasse Sie damit allein. Bin in einer Stunde zurück. Muss mich mit einem meiner anderen Klienten treffen.«
Ich beugte mich über den Schreibtisch und begann, die Unterlagen zu lesen, teilweise auch nur zu überfliegen. Samantha Campbell hatte das Protokoll gut zusammengefasst. Alles fügte sich darin zu einem vermeintlich plausiblen Gesamtbild zusammen. Das Urteil schien von der ersten Prozessminute an festzustehen. Und doch war gerade diese saubere und umfassende Beweiskette einfach zu schön, um wahr zu sein. Hätte ich als Staatsanwalt eine lupenreine Beweisführung konstruieren wollen, eine bessere
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