Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
zuerst mit der Haarklemme, dann mit der Stricknadel. Ich ruckelte damit so lange, bis sie im Mechanismus einrastete und ich ihn hin- und herbewegen konnte. Parallel drehte ich am Türknauf, bis er sich schließlich öffnen ließ und die Tür aufschwang.
Drinnen war es dunkel und roch säuerlich. Ich wirbelte den Staub auf dem nackten Holzfußboden auf. Da ich davon ausging, dass die Gaslaternen nicht funktionierten, ging ich zum Fenster hinüber und schob die zerschlissene Gardine zur Seite. Die Frau und der Junge waren hinter mir aufgetaucht und beäugten fasziniert die Höhle des Mörders. Schon bald verwandelte sich die Faszination in Enttäuschung, denn im Zimmer, das nicht mal drei auf vier Meter maß, gab es kaum etwas zu sehen. Nur eine mit einem Vorhang abgeteilte Schlafnische, einen Resopaltisch mit verzogener Platte, einen Holzstuhl, eine Spüle und einen winzigen Herd mit zwei Kochplatten. Nichts deutete auf den früheren Bewohner oder die schrecklichen Ereignisse hin. Nicht ein Tropfen angetrocknetes Blut. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte.
Als ich den Vorhang vor dem Bett zurückzog, sah ich, dass Matratze und Bettzeug fehlten. Nur das nackte Gestell war zurückgeblieben. Vermutlich hatte die Polizei den Rest zur Spurensicherung weggekarrt.
Während ich den winzigen Raum inspizierte, dachte ich darüber nach, wie Hugh Donovan seine letzten Monate hier verbracht haben mochte. Einsam und allein, manchmal völlig zugedröhnt. Vielleicht hatte er sich ständig gefragt, ob er nicht besser zusammen mit seinem Flugzeug draufgegangen wäre.
Früher hatte ich Hugh um sein Leben beneidet. Die achtköpfige Familie Donovan – vier Jungen, zwei Mädchen und die Eltern – hatten eng aufeinandergehockt, in einer großen unordentlichen Wohnung gleich neben meinem Elternhaus. Sie hatten miteinander gestritten und miteinander gelacht, einander bekämpft und einander geliebt, genau wie es in einer richtigen Familie üblich ist. Auf ein Einzelkind wie mich hatte das großen Eindruck gemacht. Wenn man sie so sah, sprach vieles für die katholische Haltung zur Empfängnisverhütung.
Sobald ich vorbeischaute, um Hugh zum Spielen abzuholen, wurde ich wie selbstverständlich in sämtliche Familienaktivitäten einbezogen: mit Wackelpudding vollgestopft, mit irgendeiner Geschichte über die Nachbarn unterhalten oder aufgefordert, bei einem Streit über Fußball Stellung zu beziehen. Ich war sozusagen Ehrenmitglied der Familie Donovan. Nur mein Haar wies mich als adoptiert aus: Ich war ein Rotschopf unter acht Schwarzhaarigen.
Hugh wuchs sorglos in dieser fröhlich lärmenden Familie auf, umgeben von Liebe und Zuwendung. Er war der Jüngste und – obwohl ich das nie zugegeben hätte – der Hübscheste von allen. Das hatte zur Folge, dass er zwar einerseits verwöhnt wurde, andererseits in diesem eingespielten Haushalt einfach »mitlief«. Er war einer der wenigen 14- oder 15-jährigen Freunde, die auch nach Antritt ihrer Arbeits- oder Lehrstelle mit mir in Kontakt blieben. Deshalb traf es mich umso härter, als er mich mit Fiona betrog.
Während ich mich in dieser armseligen, totenstillen Bude umsah, kam mir die letzte Phase seines Lebens in Anbetracht seiner fröhlichen Jugend noch schrecklicher vor. Sicher hätte ihn einer seiner Brüder oder eine seiner Schwestern in England oder Kanada, wo sie eigene Familien gegründet hatten, bei sich aufnehmen können. Doch Hugh, so wie er jetzt aussah, war vermutlich vor der Begegnung mit ihnen zurückgescheut. Ein Rest von Eitelkeit.
Stattdessen hatte er sich in seinem entstellten Körper verschanzt und nur noch für den nächsten Schuss gelebt. Doch dann traf er zufällig Fiona wieder und lernte Rory kennen. Das hatte seinem Leben im letzten Jahr noch einmal Auftrieb verliehen, diese Bruchbude erträglich gemacht, ihm einen Funken Hoffnung gegeben. Nur hatte der Gott, zu dem er betete, ihm all das wieder genommen und Hughs verbrannte Lippen zum Schweigen gebracht. So was ist für dich nicht vorgesehen, Donovan. Kein Wunder, dass es für ihn keine besondere Rolle spielte, ob er starb oder weiterlebte.
Ich musste an Fiona denken, die nur fünf Minuten von hier entfernt lebte und atmete. Doch für heute hatte ich genug davon, die Straße der Erinnerung entlangzustolpern. Also stieg ich an der Crown Street in die Straßenbahn, wechselte an der zentralen Umsteigestation Gorbals Cross die Linie, fuhr hinter dem Hauptbahnhof über die Flussbrücke und den ganzen Weg nach
Weitere Kostenlose Bücher