Galgentochter
Ewigkeit. Amen», antworteten die Gaukler.
«Kommt, setzt Euch zu mir», rief die Wahrsagerin, griff sich eine Decke und breitete sie neben sich aus. «Der Boden ist noch kühl.»
Hella dankte und setzte sich, stellte den Krug in die Mitte. Schon waren auch Tom und Gustelies herangekommen. Der Apfelkuchen wurde bejubelt, dann hörte man nur noch wohliges Schmatzen.
«Ihr seid ein wahrer Schatz», lobte Tom. «Allein für diesen Kuchen würde ich Euch Herz und Hand schenken, wäre ich kein Fahrender.»
Gustelies lachte geschmeichelt, und Hella wunderte sich noch einmal über die seltsame Verwandlung ihrer Mutter. Selbst das Haar, von der Haube nur unzureichend verborgen, glänzte heute wie flüssiges Gold.
Das Verliebtsein tut ihr gut, gestand Hella sich ein, doch ein Unbehagen blieb in ihr.
«Wie hat Euch gefallen, was ich Euch gestern aus der Hand gelesen habe?», fragte die Wahrsagerin.
«Gut hat es mir gefallen. Wenn ich auch nicht alles glaube.Sag, kommen auch manchmal Männer zu dir, um ihr Schicksal zu erfahren?»
Die Wahrsagerin winkte ab.
«Oft sogar. Manchmal scheint es mir, dass die Frauen eher Gott, die Männer eher mir vertrauen.» Sie lachte fröhlich, warf das Haar nach hinten und ließ die Ohrgehänge klimpern.
«Was sind das für Leute?», fragte Hella. «Städter wohl eher nicht, oder? Ich kann mir vorstellen, dass besonders die Armen wissen möchten, ob sie ihr Leben lang arm bleiben werden.»
«Im Gegenteil. Es ist genau andersherum. Die Städter kommen und wollen wissen, ob sie so reich bleiben werden. Sie haben Angst vor der Armut. Es ist die größte Angst überhaupt, die sie haben. Lieber krank, lieber dumm als arm. Neulich erst, stellt Euch vor, kam ein Mann aus der Stadt, der wissen wollte, ob er jemals seine Schulden loswürde. Auch seine Lebenslinie wollte er sehen.»
«Und?»
«Ich sagte ihm nicht, was ich sah: Seine Lebenslinie brach plötzlich ab. Eigentlich hätte er schon tot sein müssen.»
Hella spürte, wie ihr Herz schneller schlug. «Was war er von Beruf, der Unglückliche?»
«Gewandschneider war er wohl oder ein Haubenmacher. Seine Fingerkuppen waren wie von Nadeln zerstochen. Er hatte Angst, das habe ich gemerkt. Aber neben der Angst war da auch so etwas wie Hoffnung.»
«Ist dir sonst noch etwas aufgefallen an ihm?», fragte Hella.
«Außer der Furcht, meint Ihr? Na ja, er sprach davon, dass er ein neues Leben beginnen wolle, aber nicht wisse, wie. Ob es gelingen könnte, wollte er wissen. Ich sahin seiner Hand aber keinen Hinweis auf ein neues Leben, sondern nur auf den Tod.»
«Weißt du, wovor er Angst hatte?»
Die Wahrsagerin schüttelte den Kopf. «In seinen Augen sah ich sie sitzen, die Angst. Mehr nicht.»
Hella nickte und fragte nun nach den Kindern, um nicht allzu neugierig zu erscheinen. Erst nach einer ganzen Weile brachte sie das Gespräch zurück auf die Toten unter dem Galgen.
«War auch einmal ein Pfarrer bei dir?», fragte sie.
«Aber ja. Oft schon.»
«Das ist merkwürdig, dachte ich doch, die Geistlichen vertrauen auf Gott, dessen Wege ohnehin unerschöpflich sind.»
«So manch einer möchte auch wissen, was ihm auf Erden blüht.»
«Und die Lutherischen? Kommen die auch zu dir?»
Die Wahrsagerin kniff die Augen zusammen. Ihr Gesicht war plötzlich abweisend. «Warum wollt Ihr all das wissen? Seid Ihr gekommen, um uns etwas anzuhängen?»
«Aber nein!» Hella schüttelte heftig den Kopf. «Ich interessiere mich für die Menschen und für das Schicksal, welches mit ihnen verknüpft ist. Deshalb frage ich so viel. Verzeih meine Neugier. Ab jetzt werde ich den Mund halten.»
Die Miene der Wahrsagerin wurde ein wenig milder.
Tom hatte nach der Laute gegriffen und begann ein Lied zu spielen. Die anderen Gaukler sangen dazu. Es war ein wehmütiges Lied, in dem die Rede von einem Zuhause war, welches man ersehnt, aber doch nie findet.
Das Lied war noch nicht zu Ende, als sich jemand der Wagenburg näherte, der Hella vage bekannt vorkam. Dochsie konnte das Gesicht des Mädchens nicht genau erkennen, der Körper der Wahrsagerin versperrte ihr die Sicht darauf.
«Gott zum Gruße», rief sie, blieb zwischen zwei Wagen stehen.
«Gott auch dir zum Gruße, Agnes», erwiderte die Wahrsagerin und stand auf, sodass die Sicht für Hella frei wurde. Auch die junge Frau sah sie an, lächelte ein klein wenig und sagte: «Gelobt sei Jesus Christus, Frau Richterin.»
Hella nickte und erwiderte wie gewohnt und ohne nachzudenken: «In Ewigkeit.
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