Galgentod
versunken wäre. Seine ganze Taktik, die er sich zurechtgelegt hatte, um Kullmann nicht das Gefühl zu vermitteln, dass er ihn nur anrief, weil er ihn brauchte, war gescheitert.
»Nicht so schüchtern, Jürgen.« Kullmann lachte. »Martha hat mir schon berichtet, an welchem Fall du arbeitest. Und dass du schon mehrere Male versucht hast, mich zu erreichen.«
Schnur gab sich geschlagen. Edelmütige Motive für seinen Anruf bei Kullmann in Frankreich konnte er wohl nicht mehr vorbringen. Also berichtete er seinem ehemaligen Chef von den beiden Lehrermorden, von den Zusammenhängen und dem Verdächtigen, den sie in Untersuchungshaft genommen hatten.
Kullmann brummte gelegentlich dazwischen, ein Zeichen dafür, dass er noch in der Leitung war. Dann fragte er »Und du glaubst nicht an die Schuld deines Verdächtigen?«
»Stimmt. Besser hätte ich es nicht sagen können«, gestand Schnur.
»Was habt ihr, was gegen ihn spricht?«
»Seine DNA-Spuren wurden an beiden Tatorten gefunden. Und er wurde an beiden Tatorten zur jeweiligen Tatzeit gesehen.«
»Das sieht wirklich danach aus, dass ihr den Richtigen festgenommen habt. Ihr habt neben Indizien auch einen erdrückenden Beweis.« Ein Rascheln, dass Schnur befürchten musste, die Leitung würde unterbrochen. Aber dann hörte er wieder die Stimme seines ehemaligen Chefs: »Ich staune über deine Zweifel.«
Schnur lachte verlegen und gab endlich zu, was ihn bedrückte: »Der Verdächtige wirkt auf mich so unschuldig, dass ich plötzlich anfange, sogar unsere hochmoderne Kriminaltechnologie anzuzweifeln. Er hatte als Kind einen Unfall – ist vom Traktor gefallen und hatte sich am Kopf verletzt – genauer gesagt am Gehirn. Je nachdem, welche Areale dort verletzt worden sind, kann es zu massiven Persönlichkeitsveränderungen bis hin zur Unfähigkeit für Emotionalität oder unverhältnismäßiger Aggressionsbereitschaft führen. Das wäre die einzige Möglichkeit, die Grausamkeit mit der anschließenden Gefühlskälte zu erklären, wie er sie im Bezug auf diese beiden Taten an den Tag legt. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung.«
»Das ist der berühmte Strohhalm, nach dem man greift, wenn man nicht mehr weiter weiß«, präzisierte Kullmann.
»Klingt noch schlimmer als es ist«, gab Schnur zu.
»Du kannst veranlassen, dass sein Kopf unter ein Kernspin kommt, dann hast du mehr Gewissheit über sein Krankheitsbild«, schlug Kullmann vor.
»Da ist leider noch ein Problem.«
»Und das wäre?«
»Forseti hat die Befragung und die Festnahme durchgeführt. Wenn ich ihm ins Handwerk pfusche, sitze womöglich ich hinterher in Untersuchungshaft.«
»Das ist wirklich ein Problem«, gab Kullmann zu.
Eine Weile herrschte Stille in der Leitung, die sich dermaßen in die Länge zog, dass Schnur schon wieder befürchtete, die Leitung sei tot. Doch dann hörte er: »Diese Lehrermorde sind in Saarlouis passiert?«
Schnur staunte über diese Frage. Hatte er das nicht gerade eben erst erwähnt?
»Von Martha wusste ich bereits, dass du in deinem Fall nicht mehr weiterkommst. Deshalb habe ich mir meine Gedanken über diese kleine Stadt gemacht.«
»Ich wollte keinen Reiseführer.«
Kullmann lachte und meinte: »Saarlouis ist ein kleines Städtchen. Wenn ich mich recht erinnere, vierzigtausend Einwohner.«
»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Ganz einfach«, brummte Kullmann. »Dadurch ist die Stadt überschaubar. Mir ist nämlich wieder etwas eingefallen, was mit deinem Fall zu tun haben könnte.«
Schnur spürte Hoffnung aufkeimen. »Und was?«
»Um sicher zu sein, brauche ich noch einige Informationen.«
»Und welche?«
»Dein Verdächtiger ist von einer Adoptivmutter großgezogen worden?«
»Ja.«
»Und ihr habt keine Papiere finden können, die etwas über den Namen des Jungen aussagen, bevor er adoptiert wurde?«, vergewisserte sich Kullmann weiter.
»Genau so ist es.«
»Habt ihr in umliegenden Krankenhäusern nach Geburten von Jungen in dieser Zeit nachgefragt?«
»Haben wir.«
»Und nirgends ist die Geburt dieses Kindes bekannt?«
»Worauf willst du hinaus?«, stellte Schnur etwas zu ungeduldig eine Gegenfrage.
Kullmann lachte und meinte: »Nur Geduld! Ich weiß, wovon ich rede.«
»Daran zweifle ich auch nicht.«
»Dann will ich dir sagen, an welches Ereignis ich mich erinnert habe: Im Juni 1968 wurden Babys vor der Saarlouiser Kirche ausgesetzt. Zwei Jungen, Zwillinge, die erst vor kurzem entbunden worden waren.«
Schnur fühlte sich
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