Galgentod
nur wenig Schönes. Neben Kühltürmen stachen Hochöfen in die Luft, die wiederum von endlos langen Hallen der Drahtwalzstraße abgelöst wurden, bevor die großen Gewächshäuser von Lisdorf auftauchten.
Dafür bot die Altstadt von Saarlouis einen idyllischen Anblick. Kleinwinkelige alte Häuser aus der Zeit des 19. Jahrhunderts schmiegten sich dicht aneinander. Sie wiesen fast alle die gleiche Struktur auf, die aus schmalen, zweigeschossigen Häuserfronten mit Mansardendach, Gauben und hohen Sprossenfenstern mit Lammellenklappläden bestand. Die Straßen wurden als Silberherzstraße, Weißkreuzstraße oder Alte Brauereistraße ausgewiesen, lagen rechtwinkelig beieinander, was schon als Markenzeichen der Stadt Saarlouis angesehen werden konnte. Einige große Villen, die den Baustil des Historismus unter Verwendung von Renaissance, Barock und Gotik aufwiesen, hoben sich von den kleineren Handwerkerhäusern aus der Festungszeit deutlich ab. Aber eines hatten alle diese Häuser gemeinsam: Sie waren liebevoll restauriert worden, womit sie diesem Teil der Stadt eine besondere Atmosphäre gaben. Sogar ein ehemaliges Kasernengebäude aus dem 19. Jahrhundert war erhalten geblieben. Dort waren inzwischen das Städtische Museum, die Stadtbibliothek und die Polizei der Stadt Saarlouis eingezogen. Der lange, zweigeschossige Bau bildete eine Abgrenzung der Altstadt zum südöstlichen Teil von Saarlouis.
Schnur hatte Glück und fand sofort einen Parkplatz.
Er stieg aus und erblickte ein Bild von Fröhlichkeit und Ausgelassenheit. Bei dem sommerlichen Wetter hatten sämtliche Wirte ihre Terrassen geöffnet. Die Kopfsteinpflasterstraße sah wie ein bunter Jahrmarkt aus. Häuserfronten schimmerten in den Farben Rot, Gelb, Orange, Grau, Weiß. Straßenlampen auf Nostalgie getrimmt setzten dem Gesamtbild das I-Tüpfelchen auf. Laute Musik und Stimmengewirr herrschten in der engen Gasse.
Schnur las von seinem Notizblock ab, dass Bertram Andernach über dem »Charlie« gewohnt hatte. Diese Kneipe stand im Mittelpunkt des bunten Treibens, an der Kreuzung sämtlicher Kopfsteinpflasterstraßen der Altstadt. Das Haus wies eine zusätzliche Etage auf, sodass Bertram Andernachs Wohnung etwas höher und somit auch gleichzeitig weiter entfernt vom Kneipenrummel lag.
Ein enges Treppenhaus führte nach oben. Fahrstuhl gab es keinen. Bis in den dritten Stock musste er laufen. Oben angekommen begrüßte ihn nur noch Barthels, der Chef der Spurensicherung, der auf Schnur gewartet hatte. Die Proben zur Untersuchung waren zusammen mit den Kollegen auf dem Weg nach Saarbrücken ins Labor.
Glänzendes Parkett fiel ihm als erstes auf. Dazu hohe Fenster, die viel Licht hereinließen. Der Lärm der Altstadt war hier oben nur gedämpft zu hören. Weiße Wände und weiße Türen ließen die großen Zimmer noch geräumiger erscheinen. Dazu nur wenige, helle Möbel – ein stilvolles Arrangement, das auf Luxus hinwies.
Bertram Andernach hatte es verstanden zu leben.
»Hier ist nichts zu finden, was uns Aufschluss über den Mord an dem Deutschlehrer geben könnte«, berichtete Barthels. »Die Wohnung ist sauber, aber nicht steril. Also konnten wir problemlos Spuren sichern. Doch wie es aussieht, sind es nur seine eigenen. Mehr nach der Auswertung.«
Schnur nickte und meinte: »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich auch nicht damit gerechnet, dass das Verbrechen hier seinen Anfang genommen hat. Aber wir dürfen keine Möglichkeit auslassen.«
»Stimmt. Ich werde jetzt meinen Leuten nach Saarbrücken folgen und mich ins Labor verkriechen. Du darfst dich ab sofort hier austoben.« Barthels verabschiedete sich und ließ Schnur allein in der luxuriösen Wohnung zurück.
Eine Weile suchte der Kriminalbeamte planlos in Aktenschränken und Bücherregalen, bis er auf Schularbeiten stieß. Die Notizen, die Bertram Andernach an den Rand der Schülertexte gemacht hatte, sahen interessant aus. Neugierig ließ Schnur sich auf einem weichen Flokatiteppich nieder und begann zu lesen.
»Du verstehst selbst nicht, was du da schreibst!«
»Wenn deine Mutter nur halb so viele Wäschestücke zu bügeln hat wie du Fehler machst, bügelt sie bis an ihr Lebensende.«
»Weiter weg vom eigentlichen Thema kann man nicht sein – es sei denn, wir haben schon die Möglichkeit, auf den Mars zu fliegen.«
»Du solltest vielleicht zuerst mal Deutsch lernen, bevor du dich an ›gestaltendes Interpretieren einer Kurzgeschichte‹ heranwagst.«
Jürgen Schnur atmete tief durch.
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