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Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)

Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)

Titel: Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Ende des flachen Plateaus und kamen wieder zurück. Inzwischen war die Sonne hinter der westlichen Wand unseres Tales verschwunden, und es wurde dunkel-rosafarben und kühler. Immer mehr Purpurschatten legten sich auf die Bergzacken. Der Himmel war unendlich. Wir sahen sogar bleiche Sterne, zumindest einen oder zwei. Plötzlich hörten wir in der Ferne ein «Jodele-i», und Japhy fuhr auf und sprang auf einen Felsblock und schrie «Hoho, hoho». Da kam wieder der Jodelruf.
    «Wie weit ist er weg?»
    «Mein Gott, dem Klang nach zu urteilen ist er noch nicht mal am Anfang des Abhanges mit den Felsblöcken. Er kann es heute Abend bestimmt nicht mehr schaffen.»
    «Was wollen wir tun?»
    «Lass uns zu der Klippe gehen und uns an den Rand setzen und eine Stunde nach ihm rufen. Lass uns Erdnüsse und Rosinen mitnehmen und darauf herumkauen und warten. Vielleicht ist er gar nicht so weit weg, wie ich glaube.»
    Wir gingen zum Felsvorsprung hinüber, wo wir das ganze Tal übersehen konnten, und Japhy setzte sich mit gekreuzten Beinen in voller Lotosblütenstellung auf einen Stein und holte seine japanische Gebetsschnur mit schwarzen Holzperlen hervor und betete. Das heißt, er hielt einfach die Gebetsperlen in seinen Händen, hielt die Hände hoch, sodass die Daumen sich berührten, und starrte vor sich hin und bewegte keinen Muskel. Ich setzte mich, so gut ich konnte, auf einen anderen Stein, und wir sagten beide nichts und meditierten. Nur ich meditierte mit geschlossenen Augen. Die Stille war wie ein gewaltiger Schrei. Da, wo wir saßen, hörten wir nichts vom Murmeln und vom hastigen Geflüster des Baches. Die Felsen lagen dazwischen. Wir hörten noch ein paarmal das melancholische «Jodele-i» und antworteten darauf, aber es schien jedes Mal weiter und weiter entfernt zu sein. Als ich meine Augen öffnete, hatte sich das zarte Rot immer noch mehr ins Purpurne verfärbt. Die Sterne blitzten auf. Ich verfiel in eine tiefe Meditation, spürte deutlich, dass die Berge tatsächlich Buddhas und unsere Freunde waren, und hatte das gespenstische Gefühl, dass es doch recht seltsam sei, dass sich in diesem ganzen gewaltigen Tal nur drei Menschen aufhielten. Die mystische Zahl drei. Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya. Ich betete für die Sicherheit und sogar für die ewige Glückseligkeit des armen Morley. Einmal öffnete ich die Augen und sah Japhy unbeweglich wie einen Stein dasitzen, und fast hätte ich losgelacht, so komisch sah er aus. Aber die Berge wirkten so verdammt feierlich und Japhy auch, und genau genommen war auch mir nicht anders zumute, und eigentlich ist lachen auch etwas Feierliches.
    Es war schön. Das Zartrosa verschwand, und dann war alles purpurne Dämmerung, und der Schrei der Stille war wie die Brandung diamantener Wogen, die durch die flüssigen Pforten unserer Ohren brausen und einem das Gefühl geben: Mehr brauchst du nicht, um die nächsten tausend Jahre ruhig und zufrieden zu sein. Ich betete für Japhy, für seine zukünftige Sicherheit und dafür, dass er glücklich werden und eventuell die Buddhaschaft erringen möge. Es war alles ganz und gar ernst, alles ganz und gar eine Illusion, und alles machte mich ganz und gar glücklich.
    ‹Berge sind Raum›, dachte ich, ‹und der Raum ist eine Einbildung.› Ich dachte für mich Millionen Gedanken, und Japhy tat für sich dasselbe. Ich war erstaunt, wie er mit offenen Augen meditierte. Und vor allem berührte es mich menschlich so stark, dass dieser tolle kleine Kerl, der mit aller Intensität orientalische Lyrik und Anthropologie und Ornithologie und was sonst noch in den Büchern steht, studiert hatte, der zäh und ausdauernd über Stock und Stein und im Gebirge herumabenteuerte, es fertigbrachte, genauso plötzlich seine rührend schöne hölzerne Gebetskette aus der Tasche zu ziehen und feierlich zu beten, sicherlich nicht anders als ein altmodischer Heiliger in der Wüste. Aber es war erstaunlich, so etwas in Amerika zu sehen, wo es von Stahlwerken und Flugplätzen wimmelt. Die Welt ist nicht schlecht, wenn es Leute wie Japhy gibt, dachte ich und fühlte mich wohl. Der Schmerz in meinen Muskeln und der Hunger in meinem Bauch, die finsteren Felsen um uns herum und dass nichts da ist, das einen mit Küssen und zärtlichen Worten trösten kann … all das ist schlimm genug. Aber ganz einfach so dazusitzen und zu meditieren und mit einem anderen ernsthaften jungen Mann für die Welt zu beten … lohnte es sich nicht schon deshalb, auf die Welt

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