Gammler, Zen und hohe Berge (German Edition)
weiter zu beachten, nicht einmal mein Mitleid mit dem Hund. Was für ein trauriger, eitler Traum. In der Nacht, als ich wieder im Wald war und die Gebetsperlen durch die Finger gleiten ließ, ging ich in meinem Kopf seltsame Gebete durch, wie diese: ‹Mein Stolz ist verletzt, das ist Leere; ich bin stolz auf meine Tierliebe, das ist Leere; meine Vorstellung von der Kette, das ist Leere; Anandas Mitleid, selbst das ist Leere.› Vielleicht, wenn ein alter Zen-Meister zugegen gewesen wäre, wäre er hingegangen und hätte dem Hund an der Kette einen Tritt versetzt, und durch diesen aufrüttelnden Stoß wäre plötzlich alles wach geworden. So war es ein verhaltenes, kleines Drama am Sonntag auf dem Lande: «Raymond will nicht, dass der Hund angekettet wird.» Aber dann plötzlich, nachts unter dem Baum, hatte ich den erstaunlichen Gedanken: ‹Alles ist leer, aber wach! Die Dinge sind leer in Zeit und Raum und Geist.› Ich machte mir das alles klar, und am nächsten Tag, als ich mich sehr aufgekratzt fühlte, spürte ich, dass die Zeit gekommen war, meiner Familie alles zu erklären. Vor allen Dingen lachten sie. «Aber hört doch zu! Nein! Sieh her! Es ist einfach, ich will es mal so einfach und knapp darlegen, wie ich kann. Alle Dinge sind leer, nicht?»
«Wieso denn leer, ich halte diese Orange in der Hand, oder nicht?»
«Sie ist leer, alles ist leer, die Dinge kommen nur, um zu gehen, alle geschaffenen Dinge müssen vergehen, und sie werden vergehen müssen, einfach weil sie geschaffen wurden!»
Selbst das wollte mir keiner abnehmen.
«Du mit deinem Buddha, warum hältst du dich nicht an die Religion, mit der du auf die Welt gekommen bist?», sagten meine Mutter und Schwester.
«Alles ist vergangen, schon vergangen, eben gekommen und schon vergangen», schrie ich. «Ach», indem ich umherstapfte, zurückkam, «und die Dinge sind leer, weil sie erscheinen – nicht wahr? – man sieht sie, aber sie bestehen aus Atomen, die nicht gemessen oder gewogen oder angefasst werden können, selbst die blöden Wissenschaftler wissen das jetzt, das kleinste sogenannte Atom kann nicht gefunden werden, die Dinge sind bloß leere Zusammensetzungen von etwas, das massiv zu sein scheint, wenn es im Raum sichtbar wird, sie sind nicht groß oder klein, nah oder fern, wahr oder falsch, sie sind Geister, rein und einfach.»
«Oh, Gespenster!», rief der kleine Lou verblüfft aus. Er stimmte eigentlich mit mir überein, aber er hatte Angst, weil ich mit solchem Nachdruck von ‹Gespenstern› redete.
«Sieh mal», sagte mein Schwager, «wenn die Dinge leer wären, wie könnte ich dann diese Orange fühlen, sie sogar schmecken und sie runterschlucken, gib mir doch darauf mal eine Antwort.»
«Dein Geist erschafft die Orange dadurch, dass er sie sieht, hört, berührt, riecht, schmeckt und denkt, aber ohne diesen Geist würde, was du die Orange nennst, weder gesehen noch gehört, noch gerochen, noch geschmeckt, noch nicht mal mit dem Verstand wahrgenommen werden, sie hängt tatsächlich davon ab, die Orange, dass dein Geist existiert! Siehst du das nicht ein? An und für sich ist sie ein Un-Ding, sie ist in Wahrheit geistig, sie wird nur von deinem Geist gesehen. Mit anderen Worten, sie ist leer und wach.»
«Selbst wenn das stimmt, ist es mir immer noch egal.» Voller Enthusiasmus ging ich in der Nacht zum Wald zurück und dachte: ‹Was bedeutet es, dass ich in diesem endlosen Weltall bin und glaube, ein Mensch zu sein, der unter Sternen auf der Terrasse der Erde sitzt, aber in Wahrheit leer und wach inmitten der Leere und Wachheit aller Dinge? Es bedeutet, dass ich leer und wach bin, dass ich weiß , dass ich leer, wach bin, und dass es zwischen mir und allem anderen keinen Unterschied gibt. Es bedeutet, dass ich ein Buddha geworden bin.› Ich fühlte das wirklich und glaubte es und jauchzte, als ich daran dachte, was ich nun Japhy zu erzählen hätte, wenn ich nach Kalifornien zurückkäme. «Wenigstens er wird zuhören», sagte ich schmollend. Ich hatte großes Mitgefühl mit den Bäumen, denn wir waren eins; ich streichelte die Hunde, die sich nie mit mir stritten. Alle Hunde lieben Gott. Sie sind klüger als ihre Herren. Das sagte ich auch den Hunden, sie hörten mir zu, spitzten die Ohren und leckten mir das Gesicht. Ihnen war es so oder so egal, Hauptsache, ich war da. Sankt Raymond mit den Hunden, das war ich in dem Jahr, wenn sonst niemand oder nichts anderes.
Manchmal saß ich einfach im Wald und starrte die Dinge
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