Ganz oder gar nicht (German Edition)
Patienten in seinem Flur in einer langen Fotogalerie präsentierte. Die Operation – es war die erste in meinem Leben – dauerte anderthalb Stunden. Es wurde dabei eine neue Technik angewandt: Steadman implantierte einen Teil der Patellasehne ins Kreuzband.
Damals standen die Chancen 50:50, dass man nach so einer Verletzung wieder aktiv würde Fußball spielen können; heute schätze ich die Chance auf 95:5 ein. Mein Bruder hatte Ende der siebziger Jahre seine Fußballkarriere beenden müssen wegen einer läppischen Meniskusoperation und trug sogar noch eine dreißig Zentimeter lange Narbe davon. Meine Narbe 13 Jahre später maß nur noch fünf Zentimeter. Heute macht man das Ganze per Arthroskopie.
Beeindruckend war, dass meine Reha bereits am Tag nach der Operation begann. Ich konnte sogar schon wieder auftreten und bin auf dem Heimtrainer Fahrrad gefahren. In den Nächten hielt ein Mechanismus mein Bein immerzu in Bewegung, sodass es schnell wieder zu einem Rhythmus zurückfinden konnte. Mit einer solchen Aktivität hatte ich nicht gerechnet, sie gab mir Mut. Dennoch hatte ich einen harten und ungewissen Weg vor mir. Die unvermeidlichen Schlagzeilen, die schon vom Karriereende des Lothar Matthäus fabulierten, steigerten meine Motivation nur weiter. Ich wollte den Journalisten zeigen, dass sie mal wieder völlig falsch lagen.
Als ich aus den USA zurückkam, steckte ein vierteiliges Rehaprogramm in meiner Tasche, das ich mit Prof. Steadman und Dr. Müller-Wohlfahrt erarbeitet hatte. Da sich Lolita in den letzten Wochen der Schwangerschaft befand, verbrachte ich die erste Zeit meiner Rekonvaleszenz bei ihr in der Schweiz. In ihrem Appartement in der Nähe von Genf richtete ich mir einen Reharaum ein. Für die ersten Übungen, die auf dem Programm standen, waren nicht mehr als drei Geräte wichtig: ein Heimtrainer, eine Massagebank und ein Gummiband. Ich suchte mir außerdem einen Swimmingpool, um weitere Übungen unter Wasser machen zu können. Durch das Programm quälte ich mich allein, vormittags zwei Stunden, nachmittags zwei Stunden. Ohne Masseur, ohne Physiotherapeut, ohne Trainer.
Ich erinnere mich, dass ich in diesen Tagen in Genf einen Anruf von einem neunzehnjährigen Spieler vom Karlsruher SC erhielt. »Guten Tag, Herr Matthäus, hier ist Mehmet Scholl«, meldete er sich ganz förmlich, und ich musste ein wenig schmunzeln. »Du kannst ruhig Lothar zu mir sagen. Wir sind doch Kollegen«, entgegnete ich. Denn genau wie ich stand er bei Norbert Pflippen unter Vertrag. Der Grund seines Anrufs: Mehmet war sich nicht sicher, ob er zu Eintracht Frankfurt oder zum FC Bayern München wechseln sollte. Heute dachte er so, morgen wieder ganz anders. Norbert schlug ihm deshalb vor, doch mal mit mir zu sprechen und sich meine Expertise als bayernerfahrener Weltfußballer einzuholen. Ich erklärte ihm vor allem, dass er beim FC Bayern dauerhaft Erfolg haben würde und nicht nur saisonweise wie in Frankfurt. Ich schilderte ihm die Professionalität des Clubs und die Lebensqualität der Stadt. Es blieb nicht bei dem einen Gespräch. Es folgten weitere Telefonate, an die sich Mehmet sicher auch erinnert. So brachte ich ihn nach München, und dadurch ist aus ihm der Mehmet Scholl geworden, der er heute ist. Wäre er zu Frankfurt gegangen, wäre es nahezu unmöglich geworden, das, was er heute erreicht hat, zu toppen: Champions League gewonnen, Meisterschaften gewonnen, Nationalspieler geworden, in ganz Deutschland zum Idol aufgestiegen.
Loris kam am 17. Mai 1992 auf die Welt. Ein paar Tage vorher hatten wir noch gemeinsam in einer Genfer Disco heftig getanzt, Lolita mit dickem Bauch, ich mit geschientem Bein. Was für ein Bild! Nach der Geburt verlagerten wir unseren Lebensmittelpunkt und damit den Fitnessraum komplett in unser Haus in Italien. Ich ließ mir alle notwendigen Geräte – nun waren es einige mehr – mit einem LKW nach Civate bringen. Physiotherapeut Klaus Eder hat mir dabei unheimlich geholfen. Ich verteilte die Apparaturen – darunter Laufband und Beinpresse – so in der riesigen Garage, dass mein Blick sowohl auf den Fernseher fiel, der mich inzwischen mit sämtlichen Satellitenprogrammen und allen Spielen der Europameisterschaft in Schweden versorgte, als auch auf einen an der Wand klebenden Zeitungsausriss: »Matthäus: Karriereende«, stand da, versehen mit Fragezeichen, Ausrufezeichen, Punktpunktpunkt, was weiß denn ich. Dieser elenden Schlagzeile wollte ich widersprechen. Meine
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