Ganz oder gar nicht (German Edition)
Karriere beende ich immer noch selber.
Der zweite Teil der Reha konnte beginnen. Auch jetzt war ich auf mich allein gestellt. Drei Trainingseinheiten pro Tag, sechs Wochen lang: nur ich und das Knie. Alle zehn Tage ließ ich die Fortschritte von Dr. Müller-Wohlfahrt in München kontrollieren. Es war wirklich keine einfache Zeit. Der Verein kümmerte sich nicht um mich, und ich musste mich zusätzlich zum Aufbautraining um meine Frau und unseren Sohn kümmern. Ich hatte an vielen Ecken zu kämpfen, um das alles unter einen Hut zu bringen. Da ich die Reha nie vernachlässigen durfte, ging ich immer dann zum Trainieren in die Garage, wenn der Kleine schlief.
Langsam, aber doch schneller, als es ein Arzt empfehlen würde, steigerte ich das Programm. Der Resonanzkörper war allein ich selbst. Ich hörte immer wieder in mich hinein und traute meinem Knie mehr und mehr zu. Irgendwann merkte ich, dass mein Oberschenkel wieder an Kraft gewann. Vier Zentimeter hatte er im Umfang verloren und war fast wieder in den normalen Zustand zurückgekehrt. Ich fühlte mich so weit, um wieder im Freien und mit Ball zu trainieren. Also suchte ich mir einen Fußballplatz in der Nähe meines Wohnortes. In Civate gab es ein Restaurant, das von einer sehr netten Familie geführt wurde. Der Sohn dieser Familie stand in dem Restaurant nicht nur hinterm Herd, er war auch der Torhüter des örtlichen Fußballclubs. Mit ihm trainierte ich wieder erstmals im Freien und auf unebenem Boden. Ich war so sensibilisiert, dass ich kleinste Veränderungen im Untergrund bemerkte. Der Koch war mein Sparringspartner. Er warf mir die Bälle zu, ich spielte sie ihm zurück. Mit ihm machte ich Koordinations-, Technik- und Schussübungen. In meinem Garten hatte ich außerdem ein Trampolin aufgestellt. Lolita musste mir Bälle zuwerfen, die ich zurückspielte. Das half, um wieder Stabilität zu bekommen. Über vier Monate habe ich mir so mein eigenes Programm zusammengestellt.
Die letzte und vierte Phase verlegte ich nach Crans Montana. Sie bestand vor allem aus einsamen Wald- und Bergläufen mit Belastungen bis zum Erbrechen. Als ich mich so alleine durch die Natur quälte, fühlte ich mich an die Rocky-Filme erinnert, in denen ein willensstarker Sylvester Stallone das Comeback plant und sich auf den nächsten Fight vorbereitet. Ich habe keine Baumstämme herumgewuchtet, aber ich suchte mir für meine Ausdauerläufe und Sprints Extreme, Wurzelböden, Steigungen, rutschiges Laub, tiefen Matsch. Ich habe bewusst schwierigen Untergrund gesucht, um zu spüren, ob mein Körper mit unvorhergesehenen Situationen zurechtkommt. Ich durchkämmte den Wald wie kein anderer, und das zweimal pro Tag. Am Ende kannte ich jeden Quadratmeter. Genossen habe ich diese Waldbesuche nie. Wenn du Fußball spielen willst, fühlst du dich nicht im Fitnessraum zu Hause und auch nicht im Wald. Du magst es auch nicht, alleine zu sein. Du willst mit der Mannschaft trainieren, um dich vollwertig zu fühlen.
Am schwierigsten war es, die Ungeduld zu überwinden. Ich durfte keinen Schritt unüberlegt machen. Alles, was im Knie passiert war, ist vom Kopf aus gesteuert worden. Jede Kleinstbewegung, jedes Knirschen, jeden Schmerz habe ich registriert, was mich dazu veranlasste, doch wieder ein bisschen weniger zu belasten. Spürte ich nichts, belastete ich weiter.
Natürlich war ich ab und zu an einem Punkt, aufgeben zu wollen. Natürlich war ich der Versuchung ausgesetzt, eine Trainingseinheit wegzulassen oder mal mit der Familie ein Wochenende in den Urlaub zu fahren. Aber ich habe immer widerstanden.
Vor jedem Spiel, in das ich gegangen war, pflegte ich ein kleines Ritual. Ich saß in der Kabine, schloss inmitten der Hektik die Augen. Ich betete nicht, sondern hielt zwanzig Sekunden lang stumme Zwiesprache mit mir selbst. Ich redete mir ein, heute alles geben zu müssen, um das Beste für die Mannschaft herauszuholen. Ich redete mir ein, dass ich, wenn ich alles geben würde, besser bin als mein Gegenspieler. Ich redete mir ein, dass ich, wenn ich arbeite, belohnt werde.
Genauso beseelt war ich während meiner Rekonvaleszenz. Ich war besessen von dem Gedanken, wieder gesund zu werden. Ich hatte den Willen, morgens aufzustehen. Ich hatte den Willen, immer wieder in diese langweilige Garage zu gehen. Ich hatte den Willen, jeden Tag aufs Neue an meinen geschundenen Körper zu appellieren. Ich glaube, mir und meiner Familie ist damals im Höchsttempo ein kleines Wunder gelungen. Ich
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