Ganz oder gar nicht (German Edition)
mich gekümmert? Hatte man nicht mit den Neueinkäufen von Matthias Sammer, Darko Pancev aus Mazedonien, Rubén Sosa aus Uruguay und dem Russen Igor Schalimow ein klares Zeichen gesetzt? Nicht ein einziges Mal hatte sich der neue Trainer bei mir gemeldet. Und nur einmal, 1992 während des EM-Spiels Deutschland gegen Russland, hatte ich den Präsidenten am Telefon. In dem Spiel wirkten zwei Neuzugänge von Inter mit: Sammer und Schalimow. Deren Leistung war aber alles andere als überragend, sodass mich Pellegrini nach dem Spiel fragte, wie es mir denn eigentlich ginge und was ich von den beiden Spielern halten würde. Ich meinte nur, dass das Top-Leute seien und er doch dieses eine Spiel nicht überbewerten sollte.
Wie sehe ich die Sache heute, zwanzig Jahre danach? Ja, ich bin davongelaufen. Ich hatte mich vom Verein im Stich gelassen gefühlt und darauf gedrängt, gehen zu dürfen. Einerseits konnte ich dadurch acht schöne weitere Jahre bei Bayern München erleben. Andererseits war ich immer jemand, der gekämpft hat, der sich zurückgekämpft hat. Ich bin aber auch aus Angst davongelaufen, es nach dieser schweren Verletzung nicht mehr zu schaffen. Obwohl ich so schnell wieder einsatzbereit war, fehlte mir wohl der hundertprozentige Glaube an mich. Ich war bei Inter Mailand zweimal zum Weltfußballer gewählt worden, und plötzlich kaufte der Verein vier neue Ausländer. Damals durften aber nur drei Ausländer auf dem Platz stehen. Ich wäre der fünfte Ausländer gewesen. Wie sollte ich das deuten?
VOM KRÜPPEL ZUM WIEDERAUFERSTANDENEN
19. September 1992: die Rückkehr ins Olympiastadion. Mein erster Spieltag war der siebte der laufenden Saison. Es ging zu Hause gegen Wattenscheid, eigentlich einen mehr als schlagbaren Gegner. Zeitgleich fing das Oktoberfest an, die allgemeine Laune in München war also blendend. Nach dem Spiel, das 1:1 ausging, protokollierte der Kicker über mich: »Vierzig Pässe, davon elf Fehlpässe, fünf von acht Zweikämpfen gewonnen, kein Torschuss, zwei Flanken, zwei Ecken, ein Einwurf, ein Hackentrick, zwei Fouls, zweimal gefoult worden.« Weil man mich unbedingt in die Mannschaft einbauen wollte, musste ich als linker Verteidiger ran. Nicht gerade eine Position, die ich mochte.
Natürlich musste ich nach meinen ersten Einsätzen die erwartbaren Kritiken lesen: »Comeback misslungen!«, »Matthäus: Fehleinkauf!«. Keine Rücksicht, kein Verständnis, keine Fachkenntnis. Die Journaille haute schlicht drauf. Der 14. Spieltag, es war der 21. November 1992, zeigte mir dann endlich, dass es so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit geben musste. Eine Instanz, die dich belohnt für den Kampf und dafür, nie aufgegeben zu haben. Wir spielten in Leverkusen, zweite Halbzeit. Beim Stand von 1:1 bekamen wir eine Ecke zugesprochen. Eine Sache für Mehmet Scholl. Im Strafraum tummelten sich rund 15 Spieler, Christian Wörns, Ioan Lupescu, Christian Ziege, Bruno Labbadia. Nur ich nicht. Ich stand allein in zentraler Position rund 25 Meter vom Tor entfernt. Wie einstudiert schlug Mehmet die Ecke nicht klassischerweise vors Tor, sondern hoch und weit in meine Richtung. Der Ball flog lange. Sehr lange. Ich fixierte ihn, beschwor ihn förmlich in seinem Flugverlauf, ging ein, zwei, drei Schritte nach vorne und traf den Ball perfekt mit dem rechten Fuß, dem verletzten Bein. Über die Köpfe der staunenden Mitspieler hinweg rauschte das Ding links oben unter die Latte. Ich hatte das Tor des Jahres geschossen und mich jetzt auch bei den Zweiflern zurückgemeldet. Dieses Tor war für mich mehr als ein Tor. Es war auch mehr als ein Tor des Jahres. Es war wesentlich mehr. Ich hatte den gerechten Lohn erhalten. Ich hatte mich befreit. Von nun an wusste auch ich wieder, zu was ich fähig bin.
Nach dem 4:2 in Leverkusen lief es plötzlich wie am Schnürchen. Zwei weitere Traumtore gelangen mir in den nächsten beiden Spielen gegen Karlsruhe und Bochum: Ich war wieder der gefeierte Star. Wenige Wochen vorher galt ich noch als Invalide, der den Bayern nicht mehr helfen kann. Solche Episoden machen den Fußball natürlich spannend. Doch ich muss auch immer wieder sagen, dass man für solche Berg-und-Tal-Fahrten gute Nerven haben muss. Ich war der Vollidiot und der Superstar. Ich war der Krüppel und der Wiederauferstandene. Man muss stabil sein, um in diesem Geschäft bestehen zu können. Ich habe mich von den Niederlagen, Intrigen und Rückschlägen nie beeindrucken lassen, weil ich immer an meine eigene
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